The Rolling Stones – Beggars Banquet (1968)

 

Nach der Genesung von den Folgen eines Motorradunfalls begann Bob Dylan ab dem Frühsommer 1967 gemeinsam mit seinen Begleitmusikern, die gut ein Jahr später als The Band ihr erstes Album veröffentlichen sollten, im Keller seines Hauses spontane Sessions zu veranstalten. Bald zog man dafür in ein angemietetes Holzhaus in Woodstock um, das ob seines ungewöhnlichen Anstrichs Big Pink genannt wurde. Die mehr als 100 aufgenommenen Songs, eine wilde Mischung aus Traditionals, neuem Dylan-Material und Fremdkompositionen von Rimski-Korsakow bis Curtis Mayfield, wurden später als „The Basement Tapes“ zum festen Inventar der Rockmusik. Was das mit „Beggars Banquet“ zu tun hat? Marianne Faithfull hatte schon seit 1965 beste Beziehungen zu Dylan und seinem engsten Umfeld. Sie war eine der Ersten, die Ende 1967 eine Bandkopie mit 14, als publishers demos ausgewählten Songs der Basement-Sessions in die Hände bekam. Gleich anschließend flog sie gemeinsam mit Mick Jagger auf die Bahamas und nach Brasilien, wo der sich nach einem standesgemäßen Anwesen umschauen wollte. Marianne hatte das Band dabei und hörte es sich begeistert immer wieder an. Welchen Einfluß das auf Jagger und letzten Endes auch auf „Beggars Banquet“ hatte, bleibt natürlich Spekulation. Auf jeden Fall dürfte es seinem Entschluß, die psychedelischen Experimente von „Their Satanic Majesties Request“, mit dem die Stones „Sgt. Pepper“ hinterhergehechelt waren, zu begraben, nicht im Weg gestanden haben. Sein Spießgeselle brachte die Stimmung um den Jahreswechsel 1967/1968 auf den Punkt: „Den Rolling Stones ging der Saft aus.“. Mit der Rückbesinnung auf ihre musikalischen Wurzeln und vor allem durch die Zusammenarbeit mit dem neuen Produzenten Jimmy Miller, der auf Anhieb das Vertrauen sowohl von Jagger als auch Richards erringen konnte, standen die Stones zu Anfang des Jahres 1968 jedoch unverhofft vor ihrer wohl kreativsten Phase. Ihr letzter Nummer-1-Hit in der Heimat („Paint It Black“) stammte aus dem Mai 1966 („Ruby Tuesday“ war in England nur als B-Seite erschienen). Es wurde also höchste Zeit für ein deutliches Lebenszeichen.

 

Jumpin' Jack Flash“ entstand während der ersten Sessions mit Jimmy Miller in den Londoner Olympic Studios. Keith Richards wandte sich intensiv der akustischen Gitarre zu und experimentierte erstmals mit offenen Stimmungen. Außerdem hatte er ein neues Spielzeug: einen der ersten Kassettenrekorder von Philips. Mit ihm wurden die Demos für „Jumpin' Jack Flash“ und „Street Fighting Man“ aufgenommen. Obwohl die Idee zu ersterem Song wohl von Bill Wyman stammte, spielte dieser darauf Orgel. Richards steuerte die Baßspur bei, während Jimmy Miller gleich beim Backgroundgesang mitwirken durfte. Die Single (mit „Child Of The Moon“ auf der Rückseite) ging in England und Deutschland auf die Eins, in den USA auf Platz drei. Den Weg auf das Album fand sie jedoch nicht. Das wurde in mehreren Sessions, die lediglich von den üblichen juristischen Scharmützeln, einem Feuerwehreinsatz im Studio und Kurzauftritten beim NME-Poll-Winners-Concert und bei Top of the Pops unterbrochen wurden, zwischen März und Juli 1968 eingespielt. Reguläre Konzerte gab die Band in jenem Jahr gar nicht. Der endgültige Mix wurde anschließend in den Sunset Sound Studios Los Angeles von Miller, Jagger und Glyn Johns bewerkstelligt. Zu den Gastmusikern, die, außer Nicky Hopkins, auf dem Cover nicht erwähnt wurden, zählten Ric Grech (Family), Rocky Dijon aus Ghana sowie Dave Mason. Den kannte Jimmy Miller aus seiner Zusammenarbeit mit Traffic. Außerdem hatten Mason und Brian Jones noch im Januar gemeinsam auf Jimi Hendrix' „All Along The Watchtower“ gespielt.

Abgesehen von 'Sympathy' und 'Street Fighting Man' gab es eigentlich überhaupt keinen Rock'n'Roll auf 'Beggars Banquet'. 'Stray Cat' ist Funk, und der Rest sind Folksongs.“ Das sagt Keith Richards in seiner Autobiographie. Und der muß es ja wissen. Ich unterschreibe das sofort, aber nicht ohne den Hinweis, daß „Street Fighting Man“ bis auf den Baß ausschließlich mit akustischen Instrumenten aufgenommen wurde. Aber es rockte. Und wie es rockte! Daß das kein Widerspruch sein mußte, hatten die Byrds auf dem fast zeitgleich entstandenen „Sweetheart Of The Rodeo“ sowie Dylan in Ansätzen auf „John Wesley Harding“ bereits bewiesen.

 

Den Anfang aber macht natürlich „Sympathy For The Devil“, eine wohlkalkulierte Provokation und ein großartiges Stück Musik. Ein treibender Samba-Rhythmus befeuert eine voodoo-artige Szenerie, es dampft und brodelt an allen Ecken. Der Song wurde, vor allem in Amerika, von mehreren Radiostationen dankenswerterweise boykottiert. Die bad boys waren wieder im Gespräch.

No Expectations“ zeigt dann ein letztes Mal, wozu Brian Jones an einem guten Tag immer noch in der Lage war. Sein Slidespiel veredelt diesen ruhigen, folkigen Blues. Den Rest erledigt Nicky Hopkins. Auf weiteren Stücken, bei denen die Band ihre bluesigen Wurzeln wieder zu fassen bekam, so dem energischen „Parachute Woman“ und Robert Wilkins' „Prodigal Son“, steuert Jones Mundharmonika bei. Auffallend ist, daß diese oft recht weit nach hinten gemischt wurde, was sie für mich eher zu einem Alibi-Instrument macht. Hätte Jagger, dessen Fähigkeiten auf der Harmonika noch immer zu wenig gewürdigt werden, sie selbst gespielt, wäre sie sicher prominenter zu hören gewesen.

Während „Dear Doctor“ ein Country-Schunkler im neuen Stil der schon erwähnten Byrds ist, wird bei „Jig-Saw Puzzle“ deutlich, daß sich auch Mick Jagger nicht dem Einfluß des großen Poeten seiner Branche entziehen konnte. „There's a tramp sittin' on my doorsteps. Tryin' to waste his time.“, so hätte auch ein Dylan-Song beginnen können. Und ein „methylated sandwich“ hätte der bestimmt auch nicht verschmäht, wenn es ihm eingefallen wäre.

Über „Street Fighting Man“ muß man nicht mehr allzu viele Worte verlieren. War auch das, wie die Beschwörung finsterer Mächte ganz am Anfang, Kalkül? Wie auch immer, man kann sich für das Errichten von Barrikaden kaum einen besseren Soundtrack vorstellen. Auch diese Nummer wurde durch einen Sendeboykott in den USA geadelt. Übrigens ist das umgehend aus dem Verkehr gezogene Original-Cover der US-Single (London 45-909) heute der Alptraum eines jeden ernsthaften Sammlers. Schon für gute Farbkopien dieser Rarität werden dreistellige Beträge gezahlt.

Beim brünftigen „Stray Cat Blues“ („I can see that you're fifteen years old“) frage ich mich jedes Mal, wie die damals bei Decca wohl getickt haben mögen. Diese anzügliche Nummer wurde anstandslos geschluckt („Bet your mama don't know you scream like that“), das Toilettencover aber als unzumutbar eingestuft. Seltsame Logik.

Die Platte endet mit zwei proletarischen Stücken. Ist der Höhepunkt bei „Factory Girl“ noch Ric Grechs Geige, wird „Salt Of The Earth“ erst dadurch glaubwürdig, daß Keith Richards die ersten Zeilen singt. Einen Trinkspruch auf die Arbeiterklasse hätte man Jagger nur schwer abgenommen. Was im Anschluß mit der Nummer passiert, ist einfach nur noch ganz großes Kino! Wäre ich Repräsentant einer „Volkspartei“, ich würde niemals ohne diesen Song in den Wahlkampf ziehen! Wen, bitte schön, soll man denn mit „Angie“ mobilisieren?

Auf „Beggars Banquet“ präsentieren sich die Rolling Stones, als wären sie frisch aus dem Sauerstoffzelt gekommen: ideensprühend, genreübergreifend, geerdet. Nur das im Jahr darauf veröffentlichte „Let It Bleed“ kann ihm intern das Wasser reichen.

 

Beggars Banquet“ erschien am 6. Dezember 1968 und erreichte in England die dritte und in den USA die fünfte Chartposition. Da man sich ursprünglich mehr erwartet hatte, war man im Stones-Lager natürlich enttäuscht. Daß es nicht bis an die Spitze reichte, hatte einen Grund und eine Ursache. Der Grund war der unglückliche Veröffentlichungstermin. Zwei Wochen zuvor hatten die Beatles ihr sogenanntes „White Album“ an den Start gebracht. Und obwohl diese etwas wirre Mischung aus exzellenten Songs aber eben auch schwer konsumierbaren Collagen und Experimenten vom Hörer weit mehr guten Willen einforderte, als das Stones-Opus, blieb es natürlich ein Beatles-Album. Schon allein aus wirtschaftlichen Erwägungen hatte man auf beiden Seiten immer versucht, sich bei den Veröffentlichungsterminen für neue Singles oder LPs so weit wie nur möglich aus dem Weg zu gehen. Doch bei Decca hatte es diesmal erhebliche Verzögerungen gegeben.

Die Ursache war das geplante LP-Cover. Bereits Ende Juli war der Fotograf Barry Feinstein, der zum Beispiel auch das Coverfoto für Dylans „The Times They Are A-Changin'“ geschossen hatte, gemeinsam mit Mick Jagger in L.A. auf der Suche nach einem geeigneten Motiv. Man entschied sich letztendlich für die Toilette einer Autowerkstatt, deren Wände mit Graffiti verziert waren. Man fügte noch den Albumtitel mit roter Farbe hinzu. Fertig. Sollte der Schriftzug „Bob Dylans Dream“ nicht ebenfalls nachträglich entstanden, sondern dort schon vorher zu lesen gewesen sein, würde mir das das Vertrauen in Kfz-Werkstätten zurückgeben!

 

Decca und London (der amerikanische Partner) waren alles andere als amüsiert und weigerten sich, die Platte mit diesem Cover auf den Markt zu bringen. Die Stones blieben stur, und erst, als der Streit das Weihnachtsgeschäft zu torpedieren drohte, lenkten sie ein. Da war man aber schon klar auf Kollisionskurs mit dem weißen Wal.

Das neue Cover war bewußt schlicht gehalten und sollte eine Einladungskarte (zum Bettler-Bankett) darstellen. „R.S.V.P.“ in der linken unteren Ecke ist die französische Abkürzung für eine freundliche Bitte um Rückantwort. Im Inneren des Klappcovers findet sich ein dekadentes Bild der Stones bei einer Fressorgie, aufgenommen in einem Prunkbau im Neo-Tudor-Stil in Hampstead, London.

 

Als sich nach dem Krieg die englische und amerikanische Decca entzweiten, wurde 1947 London Records gegründet, um den Vertrieb englischer Decca-Produkte in Übersee zu übernehmen. Die LPs der Rolling Stones erschienen in den USA demzufolge auf London, ab „Their Satanic Majesties Request“ auch mit identischer tracklist.

Vor mir liegt nun eine solche US-Version (London PS 539). Es handelt sich um die Erstausgabe, also mit Klappcover, auf dessen Rückseite noch die nicht ganz korrekte Autorenangabe „Written by Mick Jagger and Keith Richards“ steht, und „Rev. Wilkins“ noch nicht als Autor von „Prodigal Son“ genannt wird. Beides wurde bei späteren Pressungen korrigiert. Mir sind von dieser Original-Ausgabe allein drei verschiedene Labelvarianten bekannt. Die Platte wiegt ordentliche 140 Gramm.

Hinzu gesellen sich noch eine deutsche Ausgabe von 1982 (Decca 6.22157) mit dem gleichen Cover, aber nicht zum Klappen (126 Gramm), sowie eine US-Pressung von etwa 1986 (ABKCO 75391), die das inzwischen rehabilitierte Toilettencover verwendet (aufklappbar mit Fressorgien-Foto) und 120 Gramm wiegt.

 

Da auch für die London-Pressungen die Decca-Masterbänder verwendet wurden, und auch das Mastering (hier wieder vom altbewährten Guy Fletcher) identisch war, dürften Unterschiede zu den englischen Originalen höchstens mit der Vinyl- und Pressqualität zusammenhängen. Meine Ausgabe klingt warm, hervorragend ausbalanciert und sehr natürlich. Audiophile Qualitäten erwartet von einer Stones-LP wohl kaum einer, braucht auch niemand. Was hier klanglich geboten wird, legt die Latte dennoch ziemlich hoch. Die deutsche Pressung kann da erwartungsgemäß nicht mithalten. Atmosphärisch und auch dynamisch muß man Abstriche machen. Eine brauchbare Alternative ist sie dennoch. „Digitally Remastered From Original Master Recording“ meint bei der ABKCO-Pressung wohl: Komprimierung fast bis zur Leblosigkeit. Wobei dem Vernehmen nach aktuellere Remasterings des Albums weit besser gelungen sein sollen. Diesen frühen Versuch braucht jedenfalls keiner, der auch nur einen guten CD-Player hat. Wer ein gut erhaltenes Original sein Eigen nennt, muß sowieso nicht drüber nachdenken.

Am Ende noch etwas, das die Rolling Stones viel zu selten getan haben: eine Würdigung Nicky Hopkins'. Was der allgemein für die Stones und speziell für „Beggars Banquet“ geleistet hat, kann man nirgendwo ausführlicher und unterhaltsamer nachlesen, als in Julian Dawsons Buch „Nicky Hopkins – Eine Rock-Legende“ (Edition Elke Heidenreich bei C. Bertelsmann, 2010). Sie werden danach mit anderen Ohren hören!

 

Musik: 9,5

Klang: 8,5 (USA, 1968)

Klang: 7,5 (Deutschland, 1982)

Klang: 6,5 (USA, 1986)

 

Ronald Born, September 2013