Ian Matthews – Tigers Will Survive (1972)

 

Ian Matthews wurde 1946 in England als Ian Matthew McDonald geboren. Nach Auflösung seiner ersten ernstzunehmenden Band Pyramid (eine Single auf Deram), schloß er sich 1968 Fairport Convention an. Auf deren Debüt-Album wird er noch als Ian McDonald geführt. Um Verwechslungen mit King Crimsons Multiinstrumentalist gleichen Namens (der zu der Zeit mit Fairports Sängerin Judy Dyble liiert war) aus dem Weg zu gehen, nannte er sich alsbald Ian Matthews. Nachdem auf „What We Did On Our Holidays“, dem zweiten Album, Sandy Denny als neue Sängerin die Aufmerksamkeit zunehmend auf sich zog, und auch bei Konzerten immer deutlicher im Mittelpunkt stand, quittierte Matthews den Dienst noch vor Erscheinen von „Unhalfbricking“ (auf dem er bei einem Stück noch zu hören ist). Bedauerlich, war er für mich doch der kongeniale Duettpartner für Sandy Denny, sehr eindrucksvoll zu bewundern auf der Nachlese „Heyday“ (Hannibal, 1987) und bei „Thro' My Eyes“ von seinem ersten Album.

 

Noch 1969 veröffentlichte er mit Hilfe seiner ehemaligen Kollegen Richard Thompson, Ashley Hutchings und Simon Nicol das Album „Matthews' Southern Comfort“. Fand sich sein Name auf den ersten beiden LPs von Fairport Convention nur bei jeweils einem Song als Co-Autor, war das nun hier gleich sechs Mal der Fall. Deutlicher lassen sich Anspruch und Ambitionen nicht zum Ausdruck bringen. Die nächsten beiden Alben unter gleichem Namen spielte er dann mit anderen Musikern ein, was unter anderem der Grund dafür ist, daß manche die erste Scheibe als Ians Debütalbum als Solokünstler betrachten. Ich verweigere mich dieser Zählweise, zumal Lydia Winslow in den liner notes zu „Second Spring“ schreibt: „This their second album...“. Dem schließe ich mich an. So bleibt denn für mich „If You Saw Thro' My Eyes“ (1971) sein Erstling, ebenfalls wieder mit starker Beteiligung der Fairport-Familie.

 

Alle Alben bis 1976 sind uneingeschränkt empfehlenswert. Danach wird es schwierig. Er versuchte sich mit poppigeren Sounds und experimentierte mit allen möglichen Stilrichtungen auf diversen Labels. Erst mit dem exzellenten „Pure And Crooked“ (1990), das meines Wissens nur auf CD erschien, gelang ihm wieder ein Werk auf dem gewohnt hohen Niveau. Als Vinyltip möchte ich hier noch das gemeinsam mit Elliott Murphy veröffentlichte Album „La Terre Commune“ (Blue Rose, 2001) wärmstens empfehlen.

Nun aber zur vorliegenden Platte. Mit Richard Thompson (als Woolfe J. Flywheel), Andy Roberts und Tim Renwick war die Stammbesatzung des Debüts wieder an Bord. Drummer Gerry Conway war für die Aufnahmen von „Teaser And The Firecat“ zur Band von Cat Stevens gewechselt und wurde durch Timi Donald und John Wilson ersetzt. Sechs eigene Songs waren zwar drei weniger, als auf dem Vorgänger, aber immer noch doppelt so viele wie auf dem Nachfolger „Valley Hi“ (1973). Für mich persönlich war (und ist) Ian Matthews (der seit vielen Jahren die gälische Schreibweise Iain bevorzugt) eher ein hervorragender Interpret als ein hervorragender Songwriter. Seine einzigen zählbaren Charterfolge „Woodstock“ (1970 mit Southern Comfort) und „Shake It“ (von „Stealin' Home“, 1978) entstammten den Federn von Joni Mitchell bzw. Terence Boylan, was allerdings allein noch kein Indiz für die Qualität seiner eigenen Songs ist. Denen fehlt irgendwie das gewisse Etwas, eine Melodie oder Textzeile, die sie über alltägliche Nummern hinaushebt. Beispiel gefällig? „Please be my friend. Let's forget what I've done, we can start again.“. Diese doch arg selbstmitleidige Nummer mit einer schlichten Melodie wird nur durch die (folk) rockige Begleitung gerettet. Die Arrangements des Albums sind insgesamt über so ziemlich jeden Zweifel erhaben. Matthews bleibt bei der bewährten Mischung aus englischen Folkelementen und kräftigen West-Coast-Spritzern, die sich auf den folgenden Platten, auch geographischen und personellen Veränderungen geschuldet, immer mehr zugunsten letzterer veränderte. Mit „Hope You Know“ und „Morning Song“ möchte ich aber zwei seiner besten Balladen nicht unterschlagen. Überhaupt scheint ihm diese Spezies am besten zu liegen, kein Wunder bei einem doch recht introvertierten Sänger. Seine Stimme ist nicht sehr wandlungsfähig und wird oft „in Watte“ gepackt, was nun wiederum aus meiner Sicht nicht nötig wäre, weiß sie doch auch „pur“ zu überzeugen. Aber ganz klar, man muß sie mögen, sonst kann man dem Ganzen nicht viel abgewinnen. Und ich mag sie.

 

Ich glaube, für einen ambitionierten und kreativen Künstler ist es extrem schwierig, sich einzugestehen, daß das vorliegende eigene Material nicht ausreicht, ein ganzes Album zu füllen. Keiner soll mir erzählen, daß das nicht die Intention wäre! Und ich denke, auch Ian Matthews hätte hier liebend gern noch ein paar mehr eigene Songs untergebracht. Offensichtlich waren die aber entweder nicht in der Schublade, oder einfach nicht gut genug. Das zu erkennen, ist eine große Leistung. Und sicherlich war ihm auch klar, wie die direkten Vergleiche mit den ausgewählten Stücken von Eric Andersen (nicht Anderson, wie fälschlicherweise auf Cover und Label vermerkt), Richard Farina (von dem er schon auf dem Debüt zwei Songs interpretierte) und erst recht dem Gespann Jeff Barry, Ellie Greenwich und Phil Spector ausfallen würden. Dessen Crystals-Hit „Da Doo Ron Ron“ war dann auch der Track des Albums, der am meisten Aufsehen erregte. Das lag beileibe nicht nur am ungewöhnlichen wie beeindruckenden A-capella-Vortrag, sondern daran, daß Matthews den Text unverändert ließ, also aus Sicht einer Frau sang. Die britische Presse reagierte verunsichert mit der Frage: „Is this the beginning of Gay-Rock?“. Wie wir wissen, mußte die Welt darauf noch ein paar Jahre warten.

 

Bis zu „Go For Broke“ (1976) bestand Matthews' Kunst nicht nur darin, erstklassige Begleitmusiker für seine Veröffentlichungen auszuwählen, sondern auch hochkarätige Fremdkompositionen, ob nun von Neil Young, Tom Waits, Richard Farina, Gene Clark, Jackson Browne, Tim Hardin oder Van Morrison, neben denen seine eigenen Beiträge zumindest überleben konnten. Spontan fällt mir da im Vergleich nur Johnny Rivers ein, der in jener Zeit ein ähnlich glückliches Händchen hatte.

 

Vor mir liegen nun zwei unterschiedliche Ausgaben von „Tigers Will Survive“. Die eine ist die deutsche Originalausgabe von 1972 (Vertigo 6360 056), die andere wurde 1980 in der Reihe „Pop Legends“ in Holland herausgegeben (Vertigo 9199 139). Im Vergleich zum Original verzichtete man beim Reissue auf das aufwendige Klappcover. Alle Fotos fehlen, allerdings wurde für die Coverrückseite ein anderer Schnappschuß Matthews' verwendet, der immerhin aus der passenden Zeit stammt, was bei Nachauflagen nicht selbstverständlich ist. Die gleiche Konstellation gibt es übrigens auch bei „If You Saw Thro' My Eyes“ (Vertigo 6360 034 bzw. Vertigo 9286 924). Dort jedoch übernahm man für die Rückseite der „Pop Legends“-Ausgabe einfach die rechte Innenseite der vormaligen Klapphülle.

 

Kann die Holland-Pressung im Tieftonbereich noch fast mithalten, zieht die Original-LP bei den Mitten und Höhen davon. Ganz klar überlegen ist sie dann in Sachen Räumlichkeit und bei der Wiedergabe von kleinen Details. Das macht einfach viel mehr Spaß. Und sie strahlt dadurch auch eine souveräne Ruhe aus, die der 1980er Platte einfach nicht gegeben ist. Oder liegt es daran, daß sie mit 140 Gramm einfach 30 Gramm mehr auf den Plattenteller wuchtet als ihre Kontrahentin? Die ist dennoch keinesfalls ein klangliches Leichtgewicht. Wer sich also nicht mit Sammlern von Swirl-Pressungen anlegen will, bekommt auch mit der Nachpressung eine vernünftig klingende Platte in die Hand.

 

Musik: 6,5

Klang: 7,5 (Deutschland, 1972)

Klang: 6,5 (Holland, 1980)

 

Ronald Born, Mai 2013