Joni Mitchell – Blue (1971)

 

Blue“, der Monolith, die Nummer 30 unter den „500 besten Alben aller Zeiten“ des Rolling Stone (und damit die am besten platzierte LP einer Frau), die beste kanadische Platte überhaupt (wenn Neil Young, The Band und Leonard Cohen echte Gentlemen wären), die klassische Singer/Songwriter-Scheibe schlechthin! Aber was ist dran am Mythos? Don't believe the hype! Oder ausnahmsweise doch? Nun, wenn Sie die Platte besitzen, wird sich Ihnen diese Frage gar nicht erst stellen.

 

Blue“ war Joni Mitchells viertes Album und für viele Jahre ihr letztes für Reprise Records. Schon der Vorgänger („Ladies Of The Canyon“) hatte den allgemeinen Durchbruch gebracht. Songs wie „Big Yellow Taxi“, „The Circle Game“ und „Woodstock“, das sowohl von Crosby, Stills, Nash & Young als auch Matthews Southern Comfort zum Hit dies- und jenseits des Atlantik gemacht wurde, beförderten sie endgültig in die erste Reihe der Singer/Songwriter. Künstlerisch auf der Sonnenseite, sorgte ihr Privatleben für deutlich mehr Schatten als Licht. Und nur davon handelt „Blue“. Die Lieder der Platte lassen nichts aus, egal, ob Trennungsschmerz, einen kurzen, aber eher unbedeutenden Urlaubsflirt („Carey“), aufkeimende Hoffnung, in James Taylor endlich die große Liebe gefunden zu haben („All I Want“), zugleich aber das Aufkommen von Zweifel und Trauer („Blue“). In zwei Stücken gestattet sie sich einen eher nostalgischen Rückblick auf längst vergangene Beziehungen („My Old Man“ und „The Last Time I Saw Richard“), während die ähnlich gelagerte Romantik in „A Case Of You“ hoffnungslos vergiftet ist. Und das alles schildert Joni Mitchell mit kindlicher Offenheit, ungeschminkt, ungeschützt und so schonungslos, daß man sich beim Hören mehr als einmal wie ein unfreiwilliger Voyeur vorkommt.

 

Wenn man sich mit einem Album befasst, das zweifelsfrei zu den besten seines Genres zählt, läßt sich natürlich ein Blick auf Dylans frühe, ähnlich spartanisch daherkommende Werke nicht vermeiden. Zwar war in den frühen 1960er Jahren der Begriff Singer/Songwriter noch nicht geläufig, aber auf wen sollte er denn besser passen, als auf den jungen Bilderstürmer? Waren seine Melodien (aus gutem Grund) weit volksliedhafter als die kleinen Kunstwerke, die Mitchell für „Blue“ komponierte, so wiesen vor allem die scheinbar persönlichsten seiner Texte eine Mehrdeutigkeit auf, die der Kanadierin hier völlig abging. Aber Dylan dachte eben im Traum nicht daran, sich vor seiner Hörerschaft zu entblößen oder diese in seinem Tagebuch herumschnüffeln zu lassen. Selbst die Stücke von „Blood On The Tracks“, seiner autobiographischsten Platte, entzogen sich spätestens dann einer befriedigenden Deutung, wenn er ihren Sinn bei Konzerten durch das Austauschen einer Zeile oder gar nur eines einzigen Wortes auf den Kopf stellte. Die „Blue“-Songs jedoch haben keine Hintertürchen. Notorische Analysten sind schnell fertig mit ihrer Arbeit. Wer aber auch mit dem Herzen hört, wird selbst bei wiederholtem Anhören noch Neues entdecken können oder sich einfach an Joni Mitchells Geschichten berauschen, mitleiden und mitlieben.

 

Nachdem ihre Beziehung zu Graham Nash in die Brüche gegangen war, nahm sie sich eine Auszeit vom Musik-Zirkus und ging auf Urlaubsreise nach Europa. Dort begann sie, an neuen Liedern zu schreiben. So entstand in Paris das von Heimweh durchzogene „California“ (wo sie gemeinsam mit Nash im Laurel Canyon gelebt hatte), auf Kreta das bereits erwähnte „Carey“.

Im Januar 1971 begannen mehr oder weniger parallel die Aufnahmen zu Carole Kings „Tapestry“ und James Taylors „Mud Slide Slim And The Blue Horizon“. An beiden war Joni Mitchell als Backgroundsängerin beteiligt. Für „Blue“ übernahm sie als Begleitmusiker Taylor (mit dem sie inzwischen auch verbandelt war) und den Schlagzeuger Russ Kunkel. Außerdem halfen Stephen Stills an Bass (!) und Gitarre sowie Sneaky Pete Kleinow an der Pedal Steel aus. Trotz dieser geballten Westküsten-Prominenz spielte Mitchell die Hälfte der Songs solo ein, nur begleitet von Klavier oder Gitarre. Erstmals kam auch ein von ihr gespielter Dulcimer zum Einsatz. Übrigens verwendete sie im Laufe ihrer Karriere weit mehr als 50 verschiedene Stimmungen für die akustische Gitarre, was sie zu einer der innovativsten und versiertesten Musikerinnen auf diesem Instrument machte. Ich wünsche schon mal viel Spaß beim Nachspielen!

 

Als das Album bereits fertig gemastert war, befanden sich noch drei Songs darauf, die Mitchell in früheren Schaffensphasen geschrieben hatte, die bislang aber auf keiner ihrer Platten untergebracht werden konnten. Erst kurz vor der geplanten Veröffentlichung tauschte sie davon noch „Urge For Going“ und „Hunter (The Good Samaritan)“ gegen die nagelneuen „All I Want“ und „The Last Time I Saw Richard“ aus. Und so blieb das bereits 1967 verfasste „Little Green“ das einzige Stück der Platte, das nicht speziell für „Blue“ erdacht worden war. Und es dürfte dem aufmerksamen Hörer damals recht rätselhaft vorgekommen sein. Die Freigabe ihres 1965 geborenen Babys zur Adoption, die dort, poetisch verschleiert, thematisiert wird, war zu jener Zeit nur engsten Freunden Joni Mitchells bekannt. Erst 1993 gelangte die tragische Geschichte an die Öffentlichkeit, vier Jahre, bevor Mitchell und ihre Tochter wieder zueinander fanden. Natürlich hört man „Little Green“ seitdem mit ganz anderen Ohren. Ich habe versucht, mir vorzustellen, wie es sein muß, wenn man als fast 30-Jähriger aus heiterem Himmel erfährt, daß man derjenige Mensch ist, von dem dieser Song handelt und bin gescheitert.

Da ist es wesentlich einfacher, Leonard Cohen zuzutrauen, sich sofort in „My Old Man“ wiedererkannt und es genossen zu haben. Die beiden verband Ende 1967 eine stürmische Affäre. Cohen war neun Jahre älter als Mitchell, was zumindest die junge Frau von damals zu solch einem Songtitel berechtigte.

Eigentlich verbietet es sich, bei solch einer Ansammlung durchweg erstklassiger Songs, noch Favoriten hervorzuheben. Aber auf seiner eigenen Website darf man sich ein paar zusätzliche Bemerkungen durchaus erlauben. Über „California“ zum Beispiel, auf dem man sehr gut James Taylors patentiertes Gitarrenspiel heraushört, und das das einzige Stück der gesamten Platte ist, das, wenn auch sehr behutsam, ausgeblendet wird. Allen anderen wird genügend Zeit eingeräumt, einfach auszuklingen. Was wiederum sehr zur intimen Atmosphäre beiträgt. „The Last Time I Saw Richard“ war das erste Lied, das ich je bewußt von Joni Mitchell gehört habe. Es lief vor gut 30 Jahren bei „Zündfunk“ auf Bayern 2 (in der selben Sendung gab es außerdem „Doctor My Eyes“ von Jackson Browne und Springsteens „Promised Land“, weshalb meine Begeisterung für Joni noch etwas warten mußte). Was waren das für Zeiten!? Da es ohne An- oder Abmoderation in den Äther gestellt wurde, führte ich es eine Zeit lang als „Pretty Lies“. Auch kein schlechter Titel.

 

Und „River“, mit dem eingebauten „Jingle Bells“-Thema, ist und bleibt für mich eines der berührendsten Lieder zum Thema Weihnachten. Es hat wohl nur deshalb keinen Einzug in die terrorverdächtige Beschallung von Weihnachtsmärkten, die Endlosschleifen der Radiostationen und die erzwungene Gemütlichkeit von Firmenweihnachtsfeiern gehalten, weil es kein Mensch mitsummen, geschweige denn mitsingen kann. Tiefe Dankbarkeit erfüllt einen!

Der todtraurige und illusionslose Titelsong macht immer noch betroffen, besonders, weil er trotz allem wunderschön ist. Bei „A Case Of You“ fehlen mir dann aber nach wie vor einfach die Worte.

 

Zum Klang der Platte gibt es hingegen so einiges zu sagen. Denn „Blue“ hat ein Problem. Und das heißt Distortion. Gemeint ist damit eine ungewollte Verzerrung bestimmter Töne, was sich bei Schallplatten in einem Zischen oder Schnarren äußert. Auf „Blue“ sind hiervon besonders die Stücke betroffen, bei denen das recht metallisch-kühl aufgenommene Piano zum Einsatz kommt. Heftige Anschläge neigen dann dazu, unsauber zu klingen. Bei hohen Gesangspassagen, die bei Joni Mitchell ja nicht eben selten sind, tritt dann besagtes Zischen auf. Diese Effekte können leicht dazu führen, daß einem das gesamte Album verleidet wird, weil das Hören einfach nur anstrengt. Es ist also enorm wichtig, über eine gute Pressung zu verfügen.

 

Die amerikanische Erstausgabe wurde von Bernie Grundman gemastert, was man an den Initialen „BG“ im Spiegel (oder auch dead wax) der Platte erkennt. Spätere Ausgaben haben diese Kennzeichnung nicht mehr. Mein frühestes Exemplar erschien Mitte der 1970er Jahre (Reprise MS 2038). Ab 1975/76 findet sich in der arcline auf dem Label das Warner-Logo. Als „Erstpressungen“ angepriesene US-Exemplare von „Blue“ (oder zum Beispiel auch „Harvest“) mit diesem Label lassen sich also sehr einfach als Schwindel entlarven. Meine Pressung hat das Thema Distortion ziemlich gut im Griff. Nur bei den wirklich schwierigen Stücken („Blue“, „River“ und vor allem „The Last Time I Saw Richard“) zischt und krächzt es dann doch etwas. Ansonsten klingt die Scheibe sehr natürlich und sauber und beweist, daß Dynamik nicht von forscher Spielweise oder der Anzahl der mitwirkenden Musiker abhängig ist.

Eine positive Überraschung bot meine deutsche Ausgabe von 1999 (Reprise K 44 128). Da sie eigentlich zu den Pressungen gehört, die das Hören zur Tortur werden lassen, stand sie jahrelang unbeachtet im Regal. Auf meinem Zweitgerät abgespielt, bestätigt sie dieses Vorurteil nach wie vor. Aber nach erstmaligem Hören im Wohnzimmer muß ich meine Einschätzung ein wenig revidieren. Natürlich hat sie noch ein paar mehr Problemzonen, als die schon erwähnte US-Version (so ist hier auch der Dulcimer-Klang infiziert und die Natürlichkeit muß Kompression weichen), aber ein besseres Tonabnehmersystem sorgt unüberhörbar für Linderung. An der ärmlichen Ausstattung (kein Klappcover, keine beigelegten Texte) ändert das aber nichts.

2006 beschloß Warner dann, das Remastering in die Hände von Steve Hoffman und Kevin Gray zu legen. Das Resultat (Reprise 74842) wurde von Rhino auf 180 Gramm schwerem „HQ-Vinyl“ von RTI veröffentlicht und beendete, zumindest für mich, die Suche nach einer Platte, die ich ganz ohne Einschränkungen genießen kann. Das leidige Thema ist keins mehr, nur ganz vereinzelt tritt es noch auf (etwa am Anfang von „My Old Man“), was vermuten läßt, daß das Problem schon auf dem verwendeten Masterband auftrat. Die Platte klingt wärmer als ihre mir bekannten Vorgänger, der Gesang noch eine Spur präsenter. Mehr läßt sich vermutlich nicht mehr herausholen.

Da dies nicht die einzige neu aufgelegte 180-Gramm-Pressung von „Blue“ am Markt ist, achten Sie unbedingt auf die beiden Sticker auf der Folienhülle. Einer ist viereckig und schwarz mit weißer Schrift („1971 Masterpiece Featuring CAREY and CALIFORNIA 180-GRAM HQ VINYL“), der andere der bekannte runde „Premium“-Sticker von RTI (silber mit schwarzer Schrift). Die Platte kommt im originalgetreuen Klappcover, dem noch ein dunkelblaues Faltblatt beiliegt: kein Text, keine Fotos, einfach nur blau. Sinnlos, aber hübsch.

Vor noch nicht allzu langer Zeit wurde diese Ausgabe recht teuer gehandelt. Inzwischen bewegt sie sich aber wieder in Richtung des ursprünglichen Ladenpreises von $24.99. Wert ist sie das in jedem Fall, und mit weniger sollte man sich gerade bei dieser Platte nicht begnügen.

 

Musik: 10

Klang: 8,0 (USA, Mitte der 1970er)

Klang: 6,5 (Deutschland, 1999)

Klang: 9,0 (USA, 2007)

 

Ronald Born, Dezember 2013