Patto – Hold Your Fire (1971)

 

Wir kennen sie alle, diese inflationär auftauchenden Listen zu den besten Alben, den besten Songs, Bands oder Gitarristen. Und zumindest auf den vorderen Rängen tut sich seit vielen Jahren relativ wenig. Zieht man den Kreis etwas enger, sagen wir zum Beispiel um die besten britischen Rock- bzw. Rhythm and Blues-Sänger der ausgehenden 1960er / frühen 1970er Jahre, liest man seit ewigen Zeiten zuerst die Namen von Jagger, Plant und Co.. In respektvollem Abstand stößt man dann für gewöhnlich irgendwann auf Paul Rodgers (Free, Bad Company). Wurde die Liste von Juroren zusammengestellt, die sich, anstatt voneinander abzuschreiben, intensiver mit der Materie befasst hatten, wird auch Mike Harrison (Spooky Tooth) noch mit einer Nennung gewürdigt. Selbstverständlich ist der aber schon nicht mehr. Und ein Name fehlt immer: Mike Patto. Dabei sang der 1942 in Gloucestershire geborene Michael Thomas McCarthy (der sich einen neuen Bühnennamen verpasste, weil er Verwechslungen mit McCartney vermeiden wollte) in einer Liga mit Rodgers und Harrison. Mindestens. Doch sein früher Krebstod 1979 scheint ihn fast vollkommen aus dem öffentlichen Bewußtsein gelöscht zu haben. Ein großer Teil der unter seiner Beteiligung entstandenen Platten wird zwar heute teuer gehandelt, aber ich befürchte, daß es in den exklusiven Sammlerkreisen, in denen das abläuft, weniger um die Musik als vielmehr die zum Kult erhobenen Labels (in erster Linie Deram, Vertigo und Island) geht. Dabei hat gerade sein musikalisches Vermächtnis außer einem Hit so ziemlich alles zu bieten, was Freunden origineller Rockmusik die Herzen höher schlagen lässt.

 

Seine ersten Sporen verdiente sich Mike Patto als Sänger in semiprofessionellen Bands in Norfolk. Ende 1964 ging er nach London, wo ihn der Produzent Robert Stigwood erst einmal mit den Five Dimensions, Long John Baldry, den Moody Blues und Chuck Berry auf eine sogenannte Packagetour schickte. Als die aufstrebende Band The Bo Street Runners einen neuen Sänger suchte (Schlagzeuger Mick Fleetwood war bereits von Bord gegangen), stieg Patto ein und sang auf der letzten Single der Gruppe (dem Beatles-Cover „Drive My Car“). Es folgten kurzlebige Bandgründungen (Patto's People), eine Solo-Single auf Columbia und sogar ein Engagement beim London Youth Jam Orchestra. Im Sommer 1967 stieß er dann zu Timebox, wo er anfangs auch das Schlagzeug bediente. Als John Halsey diesen Job übernahm, konnte sich Patto ganz auf den Gesang konzentrieren. Mit Clive Griffith am Bass und Olly Halsall an Vibraphon (!) und Gitarre war die Besetzung der Band, die sich 1970 in Patto umbenennen sollte, beisammen. Da Timebox-Singles (einige erschienen auch in Frankreich, Holland oder Dänemark, eine sogar in Deutschland) nur sehr schwer und mit gehörigem finanziellem Aufwand zu bekommen sind, empfehle ich dem interessierten Leser die 1976 erschienene LP „The Original Moose On The Loose“ (Peters International, CCLPS-9016), die alle fünf stilistisch sehr breit gefächerten englischen Singles für Deram vereint. Auch diese Platte ist nicht eben günstig, läßt einen aber eindrucksvoll daran teilhaben, wie Mike Patto allmählich „seine Stimme“ findet. Außerdem sollte man unbedingt einmal gehört haben, was die Engländer aus dem Four Seasons-Hit „Beggin'“ herausholten!

 

Und noch eine weitere unglaubliche Entwicklung kann man auf dieser Platte verfolgen. Als 1965 der 16-jährige Schlagzeuger Olly (oder auch „Ollie“) Halsall beschloß, professionell Musik zu machen und dem Ruf seines Freundes Clive Griffith nach London folgte, stieg er bei dessen Band Take Five ein. Griffith war es auch, der ihn animierte, Vibraphon zu spielen, ein Instrument, das ihm bis dahin unbekannt war. Ausgehend von intensiv studierten Platten mit Milt Jackson vom Modern Jazz Quartet (!) wurde Halsall in kurzer Zeit zu einem veritablen Vibraphonspieler. Nach der Umbenennung in Timebox und dem Einstieg von Mike Patto verließ alsbald der Gitarrist die Band, und Halsall sah sich gezwungen, sich ernsthafter mit dem Instrument zu befassen, das er letztmalig als Schüler in den Fingern gehabt hatte. Als im Dezember 1970 Pattos Debütalbum erschien, war Halsall nicht nur von einer Fender Telecaster auf eine weiße Gibson SG Custom gewechselt. Innerhalb von nur drei Jahren hatte er sich zu einem mehr als ernstzunehmenden, äußerst originellen E-Gitarristen gemausert. Wenn man sich zum Beispiel anhört, wie er im über zehnminütigen „Money Bag“ schwerblütigen Blues mit free-jazzigem Gefrickel paart, ist es schlicht unmöglich, sich dabei einen „Anfänger“ vorzustellen! Und Halsall stand erst am Beginn seiner Gitarristen-Karriere. Im Laufe dieser erspielte er sich dann einen exponierten Platz zumindest in der Liste der sträflich unterbewerteten Musiker.

 

Das Debüt „Patto“ verkaufte sich weit unter seinem Potential und natürlich auch den Erwartungen der Plattenfirma (Vertigo). Angeblich wurden in den USA, wo das Album als zweite Produktion des noch jungen Vertigo-Labels erschien, gerade einmal 5.000 Stück abgesetzt. Für England sind keine Zahlen überliefert. Als Produzent wird Muff Winwood (Ex-Spencer Davis Group und großer Bruder von Steve) genannt. Allerdings nahm er eher auf, als daß er produzierte. Der so entstandene rotzige, unpolierte und immens kraftvolle Sound läßt einen jedoch deutlich erahnen, warum Patto damals als erstklassige Liveband galten.

Ein Jahr später, kurz vor Weihnachten 1971, war erneut Bescherung für die Fans. „Hold Your Fire“ klingt weit mehr nach Studio als nach Garage, ohne an Schwung und Kreativität eingebüßt zu haben. Aufgenommen wurde es in den Londoner Island Studios, abermals unter der Ägide von Muff Winwood und Tonmeister Brian Humphries, auf dessen Habenseite schon frühe Platten von Nirvana, Traffic, den Kinks sowie die Live-Hälfte von „Ummagumma“ und Black Sabbaths „Paranoid“ zu finden waren. Die beiden Klangtüftler wandten nun wesentlich mehr Zeit für Overdubs auf, es gibt häufiger Satzgesänge zu hören, Schlagzeug und Keyboards rücken weiter nach vorn. Und auch die Songs haben nochmals an Komplexität zugelegt. Ungewöhnliche Taktwechsel sind an der Tagesordnung. Wurden auf dem Debüt noch ausschließlich Mike Patto / Olly Halsall bzw. die komplette Band als Autoren der Stücke genannt, zeichnet nun Halsall für drei der acht Songs allein verantwortlich, wobei das verstörende „Air-Raid Shelter“ aus diesem Trio noch herausragt.

 

Obwohl die Platte gern unter Jazz- oder Progressive-Rock eingetütet wird, haben wir es hier nicht mit einem sogenannten „Prog-Monster“ zu tun. Ein Glück, denn Scheiben, die mit dieser vermeintlich verkaufsfördernden Bezeichnung bedacht werden, nähere ich mich nur sehr vorsichtig. Erfahrungsgemäß droht häufig ungepflegte Langeweile! Doch bei Patto gibt es keine Stücke, die vor lauter künstlerischem Anspruch nicht von der Stelle kommen, keine Soli, die an Lokführerstreiks erinnern, weil sie sich wesentlich länger anfühlen, als sie wirklich dauern und einen am Ende hilflos im Regen stehen lassen. „Hold Your Fire“ kommt unglaublich homogen daher, kein Ton scheint zufällig oder gar überflüssig. Die Band agiert mit blindem Verständnis und einer Kompetenz, die nur durch jahrelanges Spielen in unveränderter Besetzung zu erlangen sind. Und Mike Patto singt, röhrt und schmachtet intensiver als je zuvor.

 

Gleich das Titelstück legt alle Karten auf den Tisch und verrät, ob man mit dieser Band, dieser Musik etwas anfangen kann oder nicht. Und es wird noch besser! Das folgende „You, You Point Your Finger“ greift ein damals beliebtes Thema auf und pisst der Kriegsgeneration, der jegliches Verständnis für die Jugend abgeht, gewaltig ans Bein. Dem gerechten Zorn des Textes stellt Mike Patto in seiner Interpretation eine tiefe Traurigkeit gegenüber, die den Song zu meinem absoluten Favoriten macht. Ich an Ihrer Stelle würde keinen 70er Jahre-Sampler mehr kaufen, auf dem dieses Stück fehlt! Es wäre müßig, jetzt sämtliche großen Momente dieser furiosen Platte einzeln aufzulisten, die sich gekonnt zwischen konventioneller Rock-Ware und überambitionierter Zurschaustellung handwerklicher Fähigkeiten positioniert. Was nicht heißt, daß der Liebhaber exzessiver Gitarren-Soli nicht auch auf seine Kosten käme. Was Halsall zum Beispiel in „Give It All Away“ abliefert, dürfte schon damals so manchem „Gitarren-Gott“ die Schamesröte ins Gesicht getrieben haben. Im bereits erwähnten, siebenminütigen „Air-Raid Shelter“ dürfen dann Clive Griffith und John Halsey prominent demonstrieren, daß auch die Rhythmussektion auf einem Niveau agiert, das mit dem der beiden Galionsfiguren Schritt halten kann.

 

Umso unverständlicher ist es, daß auch „Hold Your Fire“ an den Kassen der Plattenläden nur selten auftauchte. Lag es daran, daß man, wie schon beim Vorgänger, auf Singleauskopplungen verzichtete? Die Plattenfirma schaltete zum Teil ganzseitige Anzeigen in der Fachpresse. Die Kritiken in ebendieser waren zwar gut, aber nicht euphorisch und bemängelten die Diskrepanz zwischen Pattos witziger Bühnenshow und der doch sehr ernsthaften Atmosphäre der LP. Auf ihrem dritten und letzten Album „Roll 'Em Smoke 'Em Put Another Line Out“ (Oktober 1972, inzwischen auf Island), versuchte die Band, mehr vom lockeren Livecharakter im Studio zu reproduzieren, setzte jedoch verstärkt auf Keyboards und scheiterte in kommerzieller Hinsicht erneut. Im Frühjahr 1973 begannen in Spanien die Aufnahmen zu einem vierten Album, das deutlich „massenkompatibler“ ausgerichtet war, bis heute nicht offiziell erschien und Olly Halsalls Abschied provozierte, was gleichbedeutend mit dem Ende der Band war. Anschließend war Mike Patto als Gastsänger bei verschiedensten Projekten zu hören, bevor er ein Angebot von Spooky Tooth annahm, denen gerade Sänger Mike Harrison abhanden gekommen war. Auf dem gemeinsamen Album „The Mirror“ teilte er sich, wie vormals Harrison, mit Gary Wright in Songwriting und Gesang. Bei vielen Fans der Band ist diese Platte nicht sonderlich beliebt. Sie wollten natürlich „ihren“ Mike. Objektiv betrachtet (für den beinharten Fan natürlich schwierig) weist „The Mirror“ zwar im Vergleich zu den frühen Großtaten der Band einen polierteren, zeitgemäßen Sound auf, muß sich aber musikalisch und eben auch gesanglich ganz bestimmt nicht verstecken.

Nachdem es im Mai 1975 zu einer kurzen Live-Reunion von Patto gekommen war, gründete Mike gemeinsam mit seinem alten Kumpel Olly die Band Boxer. Man war im Mainstream-Rock angekommen, mit offenem Hemd, Brustbehaarung und allem, was sonst noch dazugehörte. Drei Platten (die letzte ohne Halsall) folgten, der Durchbruch blieb abermals aus. Während einer US-Tour 1976 wurde bei Patto Krebs diagnostiziert. Nach diversen Therapien und Krankenhausaufenthalten, immer wieder unterbrochen von Studio- und Liveaktivitäten, verstarb Mike Patto am 4. März 1979. Olly Halsall, der in den folgenden Jahren mit diversen Musikern und besonders intensiv mit Kevin Ayers zusammengearbeitet hatte, erlag 1992 in Madrid einem Herzinfarkt. Der Tod von Drummer John Halsey wurde 1999 in einem Nachschlagewerk auf 1979 datiert. Allerdings erfreut sich Mr. Halsey noch immer bester Gesundheit.

 

Doch zurück zu „Hold Your Fire“. Das Album erschien in England bei Vertigo (6360 032). Zu diesem damals noch jungen Label habe ich mich im Eintrag zu Black Sabbath schon ausführlich geäußert. Wie üblich, wurde auch Patto ein aufwendiges Klappcover spendiert. Die Vorderseite ist dreigeteilt und einzeln aufklappbar. Das Design stammt von Roger Dean, auch wenn es so gar nicht nach dem Schöpfer der legendären Verpackungen von Uriah Heep, Gentle Giant und vor allem natürlich Yes aussehen mag. Die Grundidee kam ja auch von der Band, deren infantile Kritzeleien Dean dann professionell ausarbeitete. In den USA übernahm Mercury den Vertrieb der Vertigo-Platten. Von den Scheiben der frühen Swirl-Ära wurden jedoch keine 20 Stück veröffentlicht. Für „Hold Your Fire“ (Vertigo VEL-1008) gestaltete ein gewisser John Youssi eine völlig neue Hülle, basierend auf einer der von Roger Dean kreierten Figuren. Für Kanada wurde dieses Cover übernommen, die britische Katalognummer jedoch beibehalten. In Deutschland erschien das Album nicht, obwohl man das Debüt noch veröffentlicht hatte. Dafür existiert eine Ausgabe aus Kolumbien, mit einfachem Cover und großem Swirl-Logo auf dem Label der A-Seite. Aber schon die Suche nach einem gut erhaltenen Exemplar des englischen Originals wird zu einer zeitraubenden Tortur, es sei denn, man ist bereit und in der Lage, die astronomischen Summen aufzubringen, die heute dafür verlangt werden. Selbst für arg ramponierte Teile mit bekritzelten Labels und zig-fach geklebtem Cover werden noch dreistellige Beträge aufgerufen. Aus eigener Erfahrung mit anderen seltenen Platten kann ich von solch einem Kauf jedoch nur abraten. Die Lücke in der Sammlung mag ja für's Erste geschlossen sein, aber für eine dauerhafte Befriedigung und die Wiederherstellung der inneren Ruhe taugen solche Teile nicht. Bevor ich zu Alternativen komme, will ich mich meiner amerikanischen Ausgabe kurz widmen. Mir sind zwei unterschiedliche Label bekannt (die A-Seite ziert bei beiden das große Swirl-Logo). Auf dem meiner Platte wird Gilbert Kong als Mastering-Ingenieur genannt, auf dem der anderen nicht. Kong hatte bereits die Swirl-Debüts von Rod Stewart (in den USA direkt bei Mercury erschienen) und Ian Matthews für den amerikanischen Markt gemastert. Da ich Pattos englisches Original leider nicht besitze, kann ich auch zu eventuellen Unterschieden nichts sagen. Meine Platte klingt hervorragend, mit der richtigen Balance zwischen den einzelnen Instrumenten und vorbildlich eingefangenem und nach vorn gestelltem Gesang. Die Zeitangabe zum Titelstück auf dem Label ist übrigens falsch, die Nummer ist über acht Minuten lang, mit einem ausschweifenden Solo Halsalls am Ende. Die wohl erste Nachauflage erschien 1995 bezeichnenderweise auf einem winzigen englischen Label mit Namen Good Vintage Records (GV 85 60 40). Auch hier wird „Hold Your Fire“ mit 6:45 angegeben, auch hier ist es falsch. Das US-Cover wurde übernommen, allerdings ist es nicht mehr zum Klappen, weshalb auch die Texte fehlen. Klanglich schlägt sich auch diese Pressung sehr gut. Der italienische Reissue-Spezialist Akarma trat dann 2002 auf den Plan (AK 190; gibt es auch in farbigem Vinyl). Diese Version ist nach wie vor im Handel. Und was man hier für um die 20.- Euro geboten bekommt, ist eine phantastisch gemachte Kopie des Originalcovers und ein Sound, dem es lediglich etwas an analoger Wärme mangelt. Aber für das gesparte Geld kann man sich ja einen kuscheligen Pullover zulegen oder literweise Grog.

 

Da die amerikanische Vertigo- als auch die Good Vintage Records-Pressung zwar längst nicht so teuer sind, wie das englische Original, jedoch noch immer weit entfernt davon, als Schnäppchen durchzugehen, lautet meine eindeutige Empfehlung Akarma. Das sehr gute Preis-Leistungs-Verhältnis und das tolle Cover überwiegen die leichten klanglichen Nachteile bei weitem. Und daß „Hold Your Fire“ in jede anspruchsvollere Kollektion zum Thema Rockmusik gehört, geht hoffentlich aus dem vorangegangenen Text hervor.

 

Musik: 9,0

Klang: 8,5 (USA, 1971)

Klang: 8,5 (England, 1995)

Klang: 8,0 (Italien, 2002)

 

Ronald Born, September 2015