Marc Cohn – Marc Cohn (1991)

 

Sommer 1991. Meine erste Urlaubstour ins vormals „westliche Ausland“ führte mich nach Holland und läßt sich grob wie folgt zusammenfassen: das erste Mal beim Italiener gegessen, das erste Mal Straßenmusik gemacht, das erste Mal die Notrufsäule auf der Autobahn benutzt, in einem Plattenladen in Eindhoven „Dylan & The Dead“ gekauft, immer noch kein Gras geraucht. Dafür erstand ich auf dem Wochenmarkt bei einem fliegenden Händler (ja, wohl auch Holländer) zwei CDs: „Peace And Love“ von den Pogues sowie Marc Cohns Debütwerk. Beide verstaute ich im Handschuhfach meines geliehenen, klapprigen Passats, wo der erste Regen die Cover aufweichte. Wieder zu Hause, sollte die Cohn-CD für mehr als ein Jahr hartnäckig ihren Spitzenplatz auf meiner Playlist verteidigen. Vorher kannte ich lediglich „Walking In Memphis“, vor dem es in jenem Sommer, genau wie vor „Losing My Religion“ oder „Joyride“, kein Entrinnen gab. Doch was ich dann zu hören bekam, bestärkte mich in der freudigen Vorahnung, die schon R.E.M.s „Out Of Time“ ausgelöst hatte. Die lange Durststrecke der 80er Jahre schien endlich überwunden! Da waren wieder richtige Songs, gesungen von richtigen Sängern, die auch an das glaubten, was sie taten.

 

Waren R.E.M. damals schon weit mehr als ein Geheimtipp, schien Marc Cohn plötzlich vom Himmel gefallen zu sein. Natürlich besaß ich „Crossroads“ von Tracy Chapman, und natürlich hatte ich auch dessen Booklet gründlich studiert. Aber ich lernte die Namen der genannten Musiker ja nicht auswendig. Und so war mir entgangen, daß er auf „Bridges“ Piano spielte. Daß ich ebenfalls keine Ahnung davon hatte, daß er bereits 1987 zwei Titel auf „Music And Songs From Starlight Express“ sang, scheint mir hingegen noch heute entschuldbar.

Die Arbeit mit Tracy Chapman brachte ihm dann 1990 einen Vertrag mit Atlantic Records ein. In den Quad Recording Studios in New York City, in dessen Lobby vier Jahre später der Rapper Tupac Shakur angeschossen wurde, nahm Cohn mit nahezu 30 Musikern die elf Songs seines ersten Albums auf. Prominente Namen, wie der des Drummers Steve Gadd oder der von James Taylor, finden sich in der Liste. Die Produktion besorgte Marc Cohn gemeinsam mit Keyboarder Ben Wisch. Das Mastering lag in den bewährten Händen Bob Ludwigs.

 

Die Platte erschien im Februar 1991, belegte in den USA Platz 38 und erlangte ein Jahr später Gold-Status (Platin dann 1996). Ich kann nicht erklären, woran es liegt, aber es gibt Platten, bei denen man schnell ahnt, daß es fortan nicht mehr besser werden wird oder kann. „Marc Cohn“ ist eine davon. Das Folgealbum „The Rainy Season“ verkaufte sich noch recht gut (auch an mich), obwohl ein Hit fehlte und sofort klar war, daß es nicht die Qualität des Debüts hatte, kein einziger Song das Format der elf Vorgänger aufwies. Danach verlor ich den Künstler komplett aus den Augen, diese eine Scheibe aber blieb immer ein treuer Begleiter. Normalerweise hege ich ein natürliches Mißtrauen gegenüber Alben, die gleich mit dem Hit beginnen. Der Überflieger soll als Köder dienen, und ist der erst einmal geschluckt, läßt man beim Rest womöglich Milde walten. Hier waren meine Vorbehalte zum Glück unbegründet. Es geht fast nahtlos so weiter, und der Künstler bemüht sich erst gar nicht, seine Vorbilder Jackson Browne oder Paul Simon sowie Soul-Einflüsse aus den 60ern zu leugnen. Daß seine ausgesprochen melodieverliebten Songs dennoch einen eigenen Charakter bekommen, liegt am beseelten, leicht angerauten Gesang. Man nimmt ihm ab, was er singt.

 

Es fällt auf, daß den Stücken, bei denen Gitarren dominieren („Dig Down Deep“ oder „Perfect Love“ etwa), die verspielte Leichtigkeit abgeht, die die schwelgerischen Pianoballaden, aber auch Midtempo-Nummern wie „Miles Away“ auszeichnet. Nur die einzige Coverversion der Platte, Willie Dixons „29 Ways“, fällt etwas aus dem Rahmen. Bis heute habe ich mich nicht so richtig an das Stück gewöhnen können. Aber ich liebe den Übergang, wenn nach einer winzigen Atempause eine gezupfte Akustikgitarre „Perfect Love“ (mit James Taylor als Gesangsgast) einleitet. Da wollte jemand bewußt Akzente setzen. Ich erinnere mich an die euphorische Kritik in einer Musikzeitschrift damals, in der von „ungeschliffenen Edelsteinen“ die Rede war. Netter Vergleich, aber Quatsch! Die Songs sind durch die Bank so perfekt arrangiert und ausgefeilt, daß sie einfach strahlen und funkeln, egal, aus welcher Richtung man sie auch betrachtet. Und drei von ihnen tun das besonders hell. Da wäre zum einen „True Companion“, das mehr ist, als ein Liebeslied. Denn die Gefährtin wird einem immer bleiben, Liebe hin oder her. Der Höhepunkt der Platte ist aus meiner Sicht aber „Silver Thunderbird“, eine Hommage an die eigene Kindheit und verspätete Liebeserklärung an den Vater. Und außerdem ist es ein Stück, das sich würdig in die lange Ahnenreihe verklärender Songs über amerikanische Automobile, von „Little Deuce Coupe“ über „Ol' 55“ bis hin zu „Little Red Corvette“, einfügt. Vielleicht habe ich ja nie eigene Lieder geschrieben, weil mein Vater einen Moskwitsch fuhr? Oder weil ich nie in Memphis war?

Walking In Memphis“ ist ein autobiographischer Song. Er verarbeitet einen Besuch Cohns im Jahr 1986, als er Graceland besichtigte und Al Green hörte. Es geht um eine Art spirituelles Erwachen, das durch die Pianistin Muriel Wilkins, die in der letzten Strophe erwähnt wird, eingeleitet wurde. Die Anspielung auf „Blue Suede Shoes“ bezieht sich übrigens nicht auf die Version von Elvis, sondern das Original von Carl Perkins. Elvis hatte den Song für seinen neuen Arbeitgeber RCA aufgenommen, Perkins jedoch zuvor schon für Sun Records in den Studios an der Union Avenue, wo auch für Elvis alles begann (siehe zweite Strophe).

 

Das Beste an der 1995 erschienenen Version von Cher, die in England Platz 11 der Charts erreichte (Cohn landete dort vier Jahre früher auf Platz 22), war, daß sie dem Autor noch einmal ordentlich Tantiemenzahlungen einbrachte. Während Marc Cohn absolut glaubwürdig eine Zeit heraufbeschwört, in der es noch möglich schien, daß Musik die Welt verändern könnte, trällert Cher, professionell wie teilnahmslos, einfach ein erfolgverheißendes Lied, das ihr wahrscheinlich ein Herr von der Plattenfirma vor die erneuerte Nase gehalten hatte.

 

Marc Cohn“ klingt wie das reife Werk eines alten Hasen und so gar nicht nach einem Debüt. Kenntnisreich wird aus längst vergangenen Epochen des Soul und Pop zitiert, um der vorherrschenden Langeweile des glattgebügelten Chart-Einerleis zu entgehen. Man muß das Rad ja nicht jedes Mal neu erfinden, um von der Stelle zu kommen.

Wie schon erwähnt, entschied ich mich 1991, schließlich seit einem Jahr stolzer Besitzer eines CD-Players, für den Silberling. Hätte ich parallel dazu auch die Vinylausgabe (Atlantic 7567-82178-1) erworben, ich wäre wohl schon viel früher dahinter gekommen, auf was für einen Kuhhandel ich mich da eingelassen hatte. Denn diese läßt das ach so moderne digitale Medium recht alt aussehen, was damals allerdings für aktuelle Veröffentlichungen eher untypisch war. Spielt die Handlung der CD in einem kargen potemkinschen Dorf, mit einer Schlagzeugattrappe und einer Baßgitarre aus Sperrholz, kommt mit der LP gefühltes Leben in Ihr Haus! Die MFSL-Ausgabe von 2008 (MFSL 1-291), für die Shawn R. Britton verantwortlich zeichnete, ersetzt dann, obwohl da rein gar nichts knistert, endgültig den Kamin in Ihrem Wohnzimmer. Jede noch so entfernte Ecke wird von wohliger Wärme erfüllt. Zum Nachlegen muß man lediglich den Tonarm wieder in die Ausgangsposition bringen. Ein sehr stabiles Klappcover und die obligatorische Antistatik-Innenhülle unterstreichen zusätzlich die Wertigkeit dieser tadellosen 180-Gramm-Pressung. Aber auch mit der weniger opulenten Original-LP lassen sich länger werdende Abende gut überbrücken. Sie müssten sie nur mal wieder auflegen.

 

Musik: 8,0

Klang: 8,5 (Deutschland, 1991)

Klang: 9,0 (USA, 2008)

 

Ronald Born, Oktober 2013