Dion – Dion (1968)

 

Wie es Platten gibt, die nur zu ganz bestimmten Tageszeiten oder bei besonderen persönlichen Stimmungen ihre volle Wirkung entfalten, gibt es auch Platten, die zu einer konkreten Zeit des Jahres einfach am besten funktionieren. So höre ich zum Beispiel, ohne vernünftige Gründe nennen zu können, „Wish You Were Here“ am liebsten im Winter, „Help!“ dagegen im Frühjahr. „Dion“ ist meine Weihnachtsplatte.

 

Dion DiMucci wuchs in der New Yorker Bronx auf, war Mitglied einer Straßengang und begann schon mit 15 eine lange Drogenkarriere. Mit Musik brachten ihn schon frühzeitig sowohl sein Vater, als auch sein Onkel, der ihm die erste Gitarre schenkte, in Berührung. Besonders Hank Williams hatte es dem jungen Italo-Amerikaner angetan.

1957 folgten erste Plattenaufnahmen bei einem kleinen Label, bei denen ihn bald drei Freunde aus der Nachbarschaft, die späteren Belmonts, begleiteten. 1958 wechselten Dion & The Belmonts zum neu gegründeten Label Laurie Records und landeten gleich mit ihrer ersten Single (der ersten von Laurie überhaupt) „I Wonder Why“ einen Hit. Ende der 1950er Jahre entstanden erstmals Doo-Wop-Gruppen mit ausschließlich weißen Sängern (häufig Italo-Amerikaner), was den Zugang zum lukrativen Markt der weißen Teenager deutlich erleichterte und dem Genre eine zweite Blütezeit bescherte. Dion & The Belmonts sollten sich sofort als Speerspitze etablieren. Nach den Top-40-Hits „No One Knows“ und „Don't Pity Me“ wurde die Gruppe zusammen mit Buddy Holly, Ritchie Valens und The Big Bopper auf Tournee geschickt. Am schicksalsträchtigen 2. Februar 1959 beschlossen die drei Genannten, sich die Strapazen einer langen Busfahrt zu ersparen und per Flugzeug zum nächsten Auftrittsort zu fliegen. Dion verzichtete aus Kostengründen, während Hollys Bassist Waylon Jennings für den grippegeschwächten Big Bopper den Platz geräumt hatte. Der Absturz der Maschine auf ein Kornfeld begründete den Mythos vom „day the music died“. Die Tour wurde mit Ersatzleuten fortgesetzt.

 

Im Juni folgte mit „A Teenager In Love“ der erste ganz große Hit, der die vier Jungs aus der Bronx nun auch in England zu Lieblingen der Teenie-Gazetten machte. Um nicht ausschließlich auf diese bekannt kurzlebige Berühmtheit angewiesen zu sein, orientierte man sich danach mehr und mehr in Richtung einer erwachseneren Zielgruppe, was nicht überzeugend gelang, so daß sich die Wege im September 1960 trennten. Die Belmonts unterschrieben bei Sabina Records, während Dion als Solist bei Laurie blieb und mit Hits wie „Lonely Teenager“, „Runaround Sue“ und „The Wanderer“ deren bestes Pferd im Stall wurde. Im Dezember 1962 war die Zeit für den nächsten großen Schritt gekommen, und der Sänger unterschrieb bei Columbia Records. Gleich die erste Single, eine Neuaufnahme des Drifters-Hits „Ruby Baby“, kletterte bis auf den zweiten Platz der US-Charts und sollte der größte Erfolg bei Columbia bleiben. Mit der British Invasion 1964 versandete die Doo-Wop-Welle schlagartig. Anhaltende Drogenprobleme trugen zusätzlich dazu bei, daß Dion fast völlig aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwand. In dieser Zeit wandte er sich musikalisch verstärkt dem Blues zu, was jedoch auf wenig Gegenliebe bei seiner Plattenfirma stieß. Diese hatte inzwischen mit Bob Dylan und den Byrds eine dominierende Position im neuen Folkrock-Boom erobert und beschloß nun, Dion dort irgendwie einzusortieren. Im Juni 1965 nahm er „It's All Over Now, Baby Blue“ auf, lange vor Them. Allerdings bekam man das Ergebnis erst 1968 auf dem zusammengestückelten Album „Wonder Where I'm Bound“, seinem letzten für Columbia, präsentiert. Folkrockeinflüsse waren unüberhörbar, nur inzwischen ein alter Hut.

 

Seit einigen Monaten clean und von einer tiefen religiösen Erfahrung geprägt (verarbeitet im Song „Your Own Back Yard“), fragte Dion bei seiner alten Plattenfirma wegen eines neuen Vertrages an. Laurie willigte unter einer Bedingung ein: er müsse das von Dick Holler geschriebene, patriotisch-rührselige „Abraham, Martin & John“, das die Ermordung Abraham Lincolns, der Kennedy-Brüder und Martin Luther Kings zum Thema hatte, aufnehmen. Die Nummer erreichte im Dezember 1968 Platz 4 der US-Single-Charts, während das hier zu besprechende Album mit Platz 128 in den USA den Namen Dion nach fünf Jahren Abwesenheit wieder Einzug in die LP-Bestenliste halten ließ.

Sowohl in den ersten Jahren bei Laurie, als auch während der Zeit bei Columbia veröffentlichte Dion auch Songs aus eigener Feder, denen jedoch der ganz große Erfolg verwehrt blieb. Auf „Dion“ finden sich ebenfalls zwei Eigenkompositionen, das Anti-Kriegs-Stück „He Looks A Lot Like Me“ und das düstere, aufwendig arrangierte „Sun Fun Song“. Beide sind recht gelungen und natürlich wundervoll interpretiert, halten aber dem Vergleich mit den Coverversionen nicht stand. Liest man die Liste der anderen Autoren, ist das jedoch keine Schande. Es paradieren (in dieser Reihenfolge) Dick Holler, Jimi Hendrix, Bob Dylan, Lightnin' Hopkins, Joni Mitchell, Leonard Cohen und Stevie Wonder. Näher am Puls der Zeit konnte man 1968 kaum sein.

 

Den Auftakt machte das schon erwähnte „Abraham, Martin & John“, nicht eben ein poetisches Meisterwerk, aber ein glaubwürdiger Ausdruck der Trauer, die das Land nach der Ermordung Robert Kennedys im Juni 1968 erneut erfasst hatte. Musikalisch gibt schon der Opener die Richtung vor, in der sich das ganze Album bewegen wird. Streicher, Oboe, Harfe und Flügelhorn schaffen eine fast klassische Atmosphäre, die durch elektrische Orgel, Bass und Schlagzeug einen zeitgemäßen Anstrich erhält. Nach dem ersten Hören der Aufnahme entschied sich Dion, noch eine akustische Gitarre einzuspielen und dem Rührstück zu etwas mehr Tiefe zu verhelfen. Für die Arrangements war John Abbott, der später auch für Melanie und Lobo arbeitete, zuständig, als Produzent fungierte Phil Gernhard. 1966 hatten die Beiden schon den Royal Guardsmen mit „Snoopy vs. The Red Baron“ einen weltweiten Hit maßgeschneidert. In Nick Hornbys phantastischem Bestseller „High Fidelity“ wird „Abraham, Martin & John“ vom Plattenladengehilfen Dick für die Liste der fünf besten Songs über den Tod vorgeschlagen. Wer braucht da noch eine Grammy-Nominierung!?

 

Purple Haze“, Hendrix' zweite Single, wird hier von einer Querflöte dominiert. Es ist diese große Distanz zum psychedelisch-rockigen Original, die die Faszination ausmacht. Außerdem wird einem nun klar, was Jimi Hendrix da für eine hübsche kleine Melodie eingefallen war. Ich habe Dions Aufnahme einmal einem Freund überspielt, der das aber für einen schlechten Scherz hielt. Dieser Gefahr setzt man sich jedoch immer aus, wenn man einen wohlbekannten Song ordentlich gegen den Strich bürstet oder eben, wie in diesem Fall, glattstreicht. Da fallen dann schnell einmal Worte wie Fahrstuhl- oder Kaufhausmusik. Zu deren Ehrenrettung muß gesagt werden, daß sie damals häufig von sehr guten Musikern zum Zwecke des reinen Broterwerbs eingespielt wurde. Was „Dion“ aber nun weit von dieser schlecht beleumundeten Gattung abhebt, ist zum einen die Raffinesse von Abbotts Bearbeitungen und zum anderen Dions ausdrucksstarker, nuancenreicher Gesang, der ihn einmal mehr als einen Großen seines Fachs ausweist. Besonders deutlich wird das auf „Tomorrow Is A Long Time“, dem folgenden Stück. Der Dylan-Song stammt aus dem Jahr 1962, wurde aber erst 1971 von ihm selbst veröffentlicht. Interpretationen von Joan Baez, Ian & Sylvia oder den Brothers Four kursierten jedoch schon längst. Zu sehr dezenter Begleitung singt Dion hier scheinbar eine zweite Stimme, während die erste irgendwie verloren gegangen scheint. Das gibt dem Song etwas Unverwechselbares. Am Ende integriert er, ohne ersichtlichen Grund und ohne in eine andere Melodie zu verfallen, noch eine Strophe von Fred Neils „Everybody's Talkin'“, das wenige Monate später für Harry Nilsson zum Hit und für den Film „Midnight Cowboy“ zum Markenzeichen werden sollte.

 

Seine intensive Beschäftigung mit authentischem Blues, angeregt durch Produzenten-Legende John Hammond einige Jahre zuvor, wird ihn automatisch auch auf Lightnin' Hopkins gestoßen haben, dessen „You Better Watch Yourself“ (hier „Sonny Boy“ genannt) er nun als flotten Folk-Blues mit reichlich akustischen Gitarren, zurückgenommenen Streichern und einer rustikalen Fiddle bringt.

Wie schon „Everybody's Talkin'“ stammt auch „The Dolphins“ von Fred Neils zweitem Album aus dem Jahr 1966. Dion gehörte zu den Ersten, die es in ihr Repertoire übernahmen. Das Arrangement lehnt sich stark an dem von „Abraham, Martin & John“ an, die Phrasierung ist atemberaubend. So singt man nur ein Lied, das man wirklich liebt!

Both Sides Now“ wurde der Öffentlichkeit erstmals im Oktober 1967 präsentiert, auf Judy Collins' Album „Wildflowers“. Joni Mitchell, die das Stück kurz zuvor geschrieben hatte, benötigte noch eineinhalb Jahre für die Veröffentlichung ihrer eigenen Version (auf „Clouds“), die den Song zu seinen Folk-Wurzeln zurückführte. Denn sowohl Collins (mit Harpsichord und Streichern) als auch Dion (in der bewährten Oboe-Harfe-Streicher-Umrahmung) setzten nicht gerade auf Schlichtheit. Die von Judy Collins im Laufe des Jahres 1968 veröffentlichte Single gelangte bis in die Top-10, die Aufnahme bescherte ihr einen Grammy. So viel Erfolg war Dion zwar nicht beschieden, aber „Wildflowers“ lieferte ihm zumindest mit „Sisters Of Mercy“ eine weitere Vorlage. Und im Gegensatz zum Original Leonard Cohens, das zwei Monate nach der Collins-LP erschien, verzichtete Dion, wie auch Judy, in seiner Version völlig auf den Einsatz von akustischen Gitarren. Ein sehr klassisch anmutendes Streichquartett, ein Harpsichord sowie ein dominierender E-Bass sorgen für das vielleicht gelungenste Arrangement der ganzen Platte, und Dions Stimme badet regelrecht in der verführerischen Melodie.

 

Den Abschluß des Albums bildet das von Motown-Legende Ivy Jo Hunter und Stevie Wonder verfaßte „Loving You Is Sweeter Than Ever“, das zu jener Zeit schon von den Four Tops, den Tremeloes und von Marvin Gaye interpretiert worden war. Der Einsatz von Bläsern ist wohl eine Verbeugung vor den Motown-Genen des Stückes. Die omnipräsente Harfe bremst es dann aber schnell wieder ein. Streicher hatte auch Marvin Gaye schon verwendet, an denen kann es also nicht liegen, daß Dions Version im direkten Vergleich recht blutleer klingt. Davon, was The Band bei Konzerten 1970 mit der Nummer veranstaltete, will ich da gar nicht erst reden.

Aber ich glaube sowieso nicht, daß „Dion“ dazu gedacht war, richtig Feuer unterm Dach zu machen. Eher sollte es wohl einen großartigen Sänger zurück ins Rampenlicht bringen und demonstrieren, daß dieser zumindest bei der Auswahl seines Materials ganz auf der Höhe der Zeit agierte. Und dieses Vorhaben gelang. 1970 wechselte er zu Warner Brothers, präsentierte sich als Singer/Songwriter und legte die schwelgerischen Arrangements komplett zu den Akten. So bleibt „Dion“ ein streitbares wie interessantes Dokument des Übergangs, wie geschaffen für Stunden, in denen man Entspannung sucht, sich aber deswegen nicht gleich langweilen will.

 

Das Album erschien Ende 1968 in den USA und Kanada auf Laurie (SLP 2047). Mein Original bietet einen sehr ausgewogenen Klang mit viel Liebe zum Detail. Selbst bei den Streichern sind einzelne Instrumente gut zu lokalisieren. Dions Stimme wurde hervorragend eingefangen und freigestellt. Die Raumdarstellung ist nahezu perfekt.

 

Um den Erfolg der ersten Single zu nutzen, legte Laurie bald eine Nachauflage vor, die vom schlichten „Dion“ zum verkaufsträchtigeren Titel „Abraham, Martin & John“ wechselte. Leider fiel auch das wunderschöne Schwarz-Weiß-Cover unter den Tisch und wurde durch ein banales Farbfoto ersetzt. Außerdem fügte man am Ende der ersten Seite die Eigenkomposition „Daddy Rollin' (In Your Arms)“ ein. Dieser bluesbeeinflußte Kracher war ursprünglich nur als B-Seite der Hit-Single zu finden. Womöglich ist dies die einzige Aufnahme hier, die den Künstler so zeigt, wie er sich damals selbst am liebsten sah. Nur leider paßt dieses Kleinod weder klanglich (es ist in Mono) noch stilistisch auf diese LP. Irgendwer hatte sich schon etwas dabei gedacht, es besser auf einer Single als auf dem Album unterzubringen.

Und genau diese etwas veränderte Ausgabe übernahm 1987 das englische Ace-Label (damals spezialisiert auf Neuauflagen alter Scheiben der Sparten Rock'N'Roll, Blues, R&B und Doo Wop). Es existiert auch eine deutsche Pressung (CH 204), die hier zum Vergleich herangezogen wurde. Auf der Coverrückseite findet man den Satz „Direct metal mastering from digital tapes“. Habe ich wirklich gehört, daß die Platte etwas kühler klingt und nicht über die schwer zu beschreibende Aura der Original-Pressung verfügt, oder fiel mir das erst nach dem Lesen dieses Hinweises auf? Ich kann es Ihnen nicht sagen. Für mich sind die klanglichen Unterschiede wirklich minimal, auch wenn mir diese Aussage gerade hier nicht eben leicht über die Lippen kommt. Sollten Sie bereits das Original besitzen und nur wegen „Daddy Rollin'“ über den Erwerb der Ace-Pressung nachdenken, empfehle ich Ihnen, lieber die Single zu kaufen. Die ist einfach authentischer. In der Bildleiste finden sie einige Anregungen.

Nun weiß ich nicht, wie Sie für gewöhnlich Ihre Weihnachtsabende verbringen, genausowenig kenne ich Art und Umfang Ihrer Dekoration. Sollte ein gutes Glas Rotwein in entspannter Atmosphäre zu einem liebgewonnenen Ritual geworden sein, dann versuchen Sie doch in diesem Jahr einmal, das Ganze mit „Dion“ musikalisch abzurunden. Eine Überdosis Lametta oder ein, zwei Räucherkerzen zu viel stören da gar nicht. Im Gegenteil.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein Frohes Fest!

 

Musik: 6,5

Klang: 7,5 (USA, 1968)

Klang: 7,5 (Deutschland, 1987)

 

Ronald Born, Dezember 2013