Jade – Fly On Strangewings (1970)

 

Ein einziges Mal in meinem Leben war ich in einem Laden des Ramschkönigs Werner Metzen, 1993 irgendwo in Baden-Württemberg. Wobei das natürlich kein Laden war, sondern eine große Baracke, bis unter die Decke vollgestopft mit allerlei Trödel und Dingen, von denen man sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, wozu die jemand brauchen sollte. In einer abgelegenen Ecke lag dort auf dem Fußboden ein ganzer Stapel mit Schallplatten, original verschweißt und für 3.- DM das Stück. Der erste Blick verriet, daß es sich um US-LPs aus den frühen 1970ern handelte, aber auch der zweite förderte keinen Namen zutage, der mir irgendetwas sagte. Bei dem Preis war ein Blindkauf kein Risiko, und ich entschied mich für vier Platten. Warum gerade die, kann ich nicht mehr sagen. Vielleicht standen auch nur diese zur Auswahl. Auf alle Fälle war jede mehrfach vorhanden. Wie sich später herausstellte, stammten alle von Bell Records oder deren Vertriebspartnern. Da war wohl ein uraltes Lager geräumt oder ein lange vergessener Container geöffnet worden. Und Metzen hatte bei der Entsorgung geholfen. Wie bei solcher Ware üblich, hatten alle Exemplare ein cut out, also eine kleine abgeschnittene Ecke, die sie als Überproduktion oder Rückläufer kennzeichnete. Drei der LPs (von Eve, Dixie Lee Innes und Hod & Marc) erwiesen sich schon beim ersten Hören als wenig aufregend. Aber immerhin waren sie trotz ihres Alters von gut 20 Jahren nagelneu. Die vierte hieß „Fly On Strangewings“ von Marian Segal with Silver Jade. Auch nach weiteren 20 Jahren und unzähligen Plattenkäufen habe ich nie eine bessere LP für weniger Geld erstanden!

 

Der Beginn von Marian Segals musikalischer Karriere unterscheidet sich lediglich in Nuancen von dem vergleichbarer englischer Künstlerinnen jener Tage. Ende 1967 lernte sie bei einem Gig im The Anglers in der Nähe von London Dave Waite kennen. Man freundete sich an, begleitete sich zunächst gegenseitig bei Auftritten, um bald als Folk-Duo gemeinsame Sache zu machen. Schon ein Jahr später war man in den entsprechenden Kreisen etabliert, spielte Konzerte in allen angesagten Clubs und an Universitäten, trat in lokalen Fernsehsendungen auf und machte sogar Aufnahmen für die BBC („Country Meets Folk“). Im Januar 1970 stieß der Pianist Rod Edwards für die Proben zu einem geplanten Album dazu. Der Musikverleger Dick James (Beatles-Fans werden kurz zusammenzucken) hatte die noch namenlose Band für sein Label DJM unter Vertrag genommen. Edwards hatte bereits mit Picadilly Line und der Nachfolgeband Edwards Hand zwei Platten aufgenommen, die noch heute zumindest in England einen hervorragenden Ruf genießen. Im März begannen die Aufnahmen für „Fly On Strangewings“ in den Londoner Trident Studios, und als im Juni eine Singleauskopplung anstand, und das Kind noch immer keinen Namen hatte, schlug Produzent Jon Miller „Jade“ vor.

 

2004 brachte Lightning Tree Records eine CD heraus, die professionell gemachte Demos und Livemitschnitte von Dave Waite und Marian Segal von Ende 1967 bis Anfang 1970 enthielt. Man nannte die sehr gelungene Zusammenstellung „Paper Flowers“, und zwei Jahre später legte Akarma / Comet Records auch eine Vinylausgabe davon vor (AK 379). Der größte Teil der Songs stammt aus der Feder von Marian, ergänzt durch jeweils ein Stück von Waite bzw. Randy Newman und zwei von Bob Dylan. Das Ganze klingt sehr amerikanisch, aber eher nach The Mamas & The Papas als nach Peter, Paul & Mary. Die verblüffende stimmliche Nähe von Marian Segal zu einer von mir hochverehrten Dame liegt zwar schon auf der Hand, - zu „Percy's Song“ schreibt sie in den liner notes ganz offen, daß ihr Vortrag von Fairport Conventions Interpretation geprägt wurde - aber auch wenn viele der Aufnahmen wirklich großartig sind, bereiten sie nur ungenügend auf das vor, was im Frühjahr 1970 in den Trident Studios entstehen sollte.

 

Nicht nur die Songs hatten an Substanz gewonnen, der Charakter der gesamten Scheibe hatte sich von Folkpop hin zu Folkrock gewandelt. Das lag natürlich in der Hauptsache an den exquisiten Sessionmusikern, die dem Trio zur Seite standen. Wenn Marian oder Dave einmal nicht zur akustischen Gitarre griffen, übernahm Michael Rosen (ehemals Eclection) den Job, am Baß stand Pete Sears (siehe Rod Stewart), die elektrische Gitarre beackerte James Litherland (ehemals Colosseum), während sich in diverse Schlagwerke (neben den Drums noch Kesselpauke, Congas und Fingerzimbeln) gleich vier renommierte Herren teilten. Terry Cox kam von Pentangle, Pete York von der Spencer Davis Group (und tourt heute mit Helge Schneider), Mick Waller trommelte mehr oder weniger parallel auch auf Rod Stewarts „Gasoline Alley“ und Clem Cattini wurde von mir schon bei Donovans „Hurdy Gurdy Man“ erwähnt. Außerdem hatte er nach „Telstar“ von den Tornados (1962) noch bei mehr als 40 Nummer-1-Hits hinterm Schlagzeug gesessen und in den 60er und 70er Jahren bei so ziemlich jeder Band, von den Kinks bis zu den Bay City Rollers, die es in England mal krachen lassen wollte, ausgeholfen. Verwundert es da noch, daß man sich einer etwas härteren Gangart befleißigte?

 

Englische Folkrock-Band, Frontfrau, frühe 1970er …, der Vergleich zu Fairport Convention mit Sandy Denny bzw. ihrem Fotheringay-Album, das nur wenige Wochen vor der Jade-LP erschien, drängt sich bereits auf, bevor man auch nur einen Ton von „Fly On Strangewings“ gehört hat. Jedoch gibt es schon bei oberflächlicher Betrachtung ein paar sehr markante Unterschiede. Marian Segal lebt praktisch Sandy Dennys großen Traum (oder zumindest den ihres Produzenten und Managers). Sie singt ausschließlich eigene Songs, und sie muß sich den Leadgesang mit niemandem teilen. Die Stücke bedienen sich zwar auch der alten englischen Folktradition, sind aber nicht so tief darin verwurzelt wie die von Fairport. Außerdem setzte man, wenn auch dezent, Streicher ein und die Arrangements waren insgesamt poppiger. Marians Texte vermeiden meist erfolgreich gängige Klischees, erzählen häufig aus einem sehr persönlichen Blickwinkel, auch wenn ihnen die Tiefe und der Schmerz von Sandy Dennys Lyrik nicht gegeben sind.

 

Der Einstieg mit „Amongst Anenomies“ ist äußerst gelungen. Ein solides Fundament aus Baß und Schlagzeug, prickelnde Läufe einer akustischen Gitarre, feiner Harmoniegesang. Man denkt instinktiv an ein Outtake der Fotheringay-Sessions. Auch bei „Raven“ liegt der Vergleich nahe, trotz Orgel und Harpsichord. Dave Waite übernimmt als Duettpartner die Rolle von Trevor Lucas. Nur die Melodie des kurzen Stückes gibt nicht allzu viel her.

Das ändert sich beim folgenden Song, „Fly On Strangewings“. Hielt man die Parallelen zu Sandy Dennys Arbeiten bisher noch für Zufall, wird hier offensichtlich, woran Jade und vor allem deren Sängerin sich orientierten. „Who Knows Where The Time Goes“ ist eindeutig die Mutter dieser streicherunterlegten Ballade. Aber als Referenz konnte man sich damals kaum etwas Besseres vorstellen.

Bei „Mayfly“ kommen erstmals Banjo und eine elektrische Violine zum Einsatz. Letztere, gespielt von John Harper, nimmt den von Dave Swarbrick geworfenen Ball gekonnt auf und macht diese „Eintagsfliege“ zu einer überaus flotten, country-gefärbten Angelegenheit. Phil Dennys' Streicherarrangement ist hier weniger zuckrig als beim Vorgänger und hält sich wohltuend zurück.

Zu „Alan's Song“, der einzigen Single der Platte, habe ich mal gelesen, es erinnere manchen an den jungen Cat Stevens. Das kann ich allerdings nicht unterschreiben. Streicher und Kesselpauken gab es zwar auch in dessen früher Phase, und auch der Text über das Älterwerden hätte von ihm stammen können, aber der Melodie, bei der einem einfach nicht einfallen will, wo man sie schon mal gehört hat, fehlt schlicht die kompositorische Raffinesse, die schon Stevens' frühen Liedern zu etwas Besonderem verholfen hat.

Die erste Seite endet mit „Bad Magic“, einem Rocker mit Harpsichord- und E-Gitarren-Solo, der auch auf Donovans „Barabajagal“ keine schlechte Figur gemacht hätte.

 

Clippership“ ist ein flotter, aber eher unspektakulärer Auftakt zur zweiten Seite. „Five Of Us“ hingegen präsentiert feinsten englischen Folkrock, melodisch, zupackend und mit klassischen Verweisen auf dem Harpsichord. Trotz elektrisch verstärkter Begleitung dominieren auf „Reflections On A Harbour Wall“ dann die akustischen Gitarren von Waite und Segal, während das folgende „Mrs. Adams“ (über das Ableben einer guten Bekannten) wie eine fairportsche Adaption eines alten Volksliedes daherkommt. Der starke Satzgesang und John Harpers Geige hauen treffsicher in die selbe Kerbe.

Das besinnliche „Fly Me To The North“ hat alles, was eine große Ballade ausmacht. Die Melodie ist ausgesprochen anhänglich, beide Hauptdarsteller singen souverän, mal im Duett, mal versetzt, die Begleitung ist angemessen schlicht und auf den Punkt. Wenn nur diese Streicher nicht wären! Kein Wunder, daß sich Rod McKuen (ein Fan der Band) ein Jahr später des Songs annahm und noch mal ordentlich Sirup drüber kippte.

Aber so wollte man das Album offensichtlich nicht ausklingen lassen und ließ es bei „Away From The Family“ noch mal ordentlich krachen. Die Nummer klingt sehr amerikanisch und lag somit voll im Trend.

 

Als die LP im August 1970 erschien, kürte sie der Melody Maker zum „Album des Monats“, was jedoch kaum positive Auswirkungen auf die Verkaufszahlen hatte (die Single war bereits im Juni abgesoffen). Es folgten zahlreiche Konzerte und Fernsehauftritte die allesamt sehr wohlwollend registriert wurden. Doch die Platte lag fast wie Blei in den Regalen. Im Juni 1971 ging man sogar für mehrere Wochen auf USA-Tournee, wo „Fly On Strangewings“ wegen einer Band gleichen Namens unter „Marian Segal with Silver Jade“ gerade erschienen war. Zum unbefriedigenden kommerziellen Ertrag gesellten sich auch noch Probleme mit dem Management, und so gab die Band im Herbst ihre Auflösung bekannt. Für 30 Jahre verschwand ihr Name in der Versenkung. Erst 2001 erinnerte sich die nimmersatte englische Musikpresse (in diesem Fall das Mojo-Magazin) wieder an das Album und erklärte es kurzerhand zu einem der zehn besten seines Genres (Superlative gehören auf der Insel so untrennbar zur Pop-Kultur, wie zynische Verrisse). Zwei Jahre später besprach der renommierte Record Collector die Platte in seiner Rubrik „Diggin' For Gold“ und schraubte den Wert gleich mal auf 200 Pfund. Das war mehr als das Vierfache dessen, was die Zeitschrift noch vor drei Jahren im hauseigenen Price Guide veranschlagt hatte! Plötzlich fand sich die Originalpressung mit Klappcover (DJM DJLPS.407) im Rang einer Rarität wieder, und Internethändler korrigierten nur zu gern ihre Offerten. Der Vorteil dieses häufig zu beobachtenden Phänomens ist, daß das angefachte Interesse auch Reissue-Spezialisten wachrüttelt, die dann dafür sorgen, daß weniger betuchte Musikliebhaber ebenfalls in den Genuß der wiederentdeckten Scheiben gelangen können. Bei „Fly On Strangewings“ machten die Profis von Lightning Tree Records den Anfang und spendierten der LP-Ausgabe (Light Flash LP001, 2003) gleich noch eine Bonus-Single mit zwei unveröffentlichten Aufnahmen („Big Yellow Taxi“ und „Carolina On My Mind“). 2008 gab es dann noch zwei weitere Bonustracks auf einer japanischen CD. Eine limitierte CD aus Südkorea brachte es 2011 dann sogar auf sechs zusätzliche Songs, einen Radiospot und zwei Mini-Poster! Da der geneigte Vinylfreund für ein Cover, auf dem man auch noch die Namen der Gastmusiker ohne Lupe lesen kann und für dessen Inhalt man beide Hände braucht gern auf jedweden Bonus-Schnickschnack verzichtet, hat die katalanische Plattenschmiede Guerssen 2012 eine am UK-Original angelehnte Auflage vorgelegt (GUESS095) und ihr außer 180 Gramm auch noch ein vierseitiges Faltblatt mit seltenen Fotos, liner notes von Richard Allen und einem Grußwort von Marianne Segal (wie sie sich heute nennt) spendiert. Diese Platte stellt sich nun dem Vergleich mit meiner US-Pressung (DJM DJM 9100), die auf das Klappcover verzichten muß, aber nach wie vor (in Amerika) problemlos und vergleichsweise günstig zu bekommen ist. Für 3.- DM dürfte aber schwierig werden.

 

In den oben erwähnten liner notes schrieb Mr. Allen (sicherlich ein Engländer), daß die US-Pressung dem englischen Original klanglich klar unterlegen wäre und macht ein minderwertiges Band dafür verantwortlich. Leider kann ich das nicht überprüfen, habe aber irgendwo auch schon das genaue Gegenteil gelesen. Fakt ist, daß die mir vorliegende Platte (gut 150 Gramm) wunderbar natürlich und transparent klingt. Einzelne Instrumente lassen sich mühelos orten, Gesangsstimmen heben sich ab, ohne sich jedoch über Gebühr aufzudrängen. Ein Hinweis im dead wax der Platte verrät, daß sie in den Bell Sound Studios New York gemastert wurde (wie auch die amerikanische „Let It Be“ von den Beatles).

Bei der Guerssen-LP vermute ich, daß man sich auf Marianne Segals Bearbeitung für Lightning Tree stützte. Nur leider kann diese mit der DJM-Pressung nicht mithalten. Vor allem den rockigeren Stücken fehlt deren Luftigkeit und Souveränität. Und noch etwas fällt auf. Ist die Kanaltrennung schon bei der alten US-Version recht heftig, geht man 2012 noch einen Schritt weiter. Den Platz zwischen Ihren Boxen könnten Sie glatt untervermieten. Aber das ist Nörgelei auf recht hohem Niveau.

Läßt man die englischen Jubelarien mal außen vor und befleißigt sich einer nüchtern-kontinentalen Einschätzung, bleibt unterm Strich ein Album, das als Gesamtpaket über dem Durchschnitt liegt und dessen Wiederentdeckung überfällig war. Verglichen zum Beispiel mit dem ähnlich gestrickten „Fotheringay“ fehlen zwar die Überflieger, aber das Gefälle zwischen den einzelnen Songs ist dafür weit geringer.

Und der letzte Hinweis geht an Dave Pegg von Fairport Convention. Seit 1976 organisieren er und sein Team alljährlich das wunderbare Cropredy-Festival. Weil eine Fairport-Party ohne die Songs von Sandy Denny schlicht undenkbar ist, wurde von Anfang an versucht, Gastsängerinnen zu engagieren, die sich dieser Aufgabe stellen wollten und konnten. Da gab es Cathy Lesurf, Julianne Regan, Sheila Parker und immer wieder Vikki Clayton. Und alle waren nicht zu beneiden, manchmal eher zu bemitleiden. Lieber Dave, da gibt es auf Deiner Insel eine Marianne Segal, die noch immer aktiv ist, und ich wundere mich wirklich, daß Du noch nicht selbst darauf gekommen bist!

 

Musik: 8,0

Klang: 8,5 (USA, 1971)

Klang: 7,5 (Spanien, 2012)

 

Ronald Born, Juni 2014