David Bowie – The Rise And Fall Of Ziggy Stardust And The Spiders From Mars (1972)

 

Neulich war ich in Berlin und habe dort unter anderem die große David-Bowie-Ausstellung besucht. Da war es naheliegend, mich endlich mit einer seiner Platten hier näher zu befassen. Ein paar Tage zuvor erlebte ich ein Konzert von Travis, und gestern war eine etwas seltsame Chris-Norman-DVD in der Post. Also beschweren Sie sich bitte nicht über meine Wahl!

 

Bowie ist gerade einmal wieder ziemlich angesagt. Vor gut einem Jahr rollte sein neues Album „The Next Day“ die weltweiten Hitparaden auf (seine erste Nummer 1 in Deutschland), anschließend lockte oben erwähnte Ausstellung erst in London, danach in Berlin, mehr Zuschauer an, als sie vertragen konnte. Und nun springe auch ich noch auf diesen Zug auf. Aber nur scheinbar. Die neue Platte gefällt mir nicht, und auch ohne die Ausstellung wäre „Ziggy Stardust“ irgendwann ein Thema geworden, nur etwas später. Wobei bis kurz vor Redaktionsschluß auch „Hunky Dory“ noch ein heißer Kandidat war. Alle anderen Bowie-LPs rangieren in meiner Gunst so weit hinter diesen (jawoll!) Meisterwerken, daß sie nie ernsthaft zur Debatte standen. Warum nun ausgerechnet „Ziggy Stardust“? Weil „Song For Bob Dylan“ auf „Hunky Dory“ zu finden ist, und ich nicht schon wieder... Sie verstehen? Ganz wird es aber nicht gelingen, meinen Lieblingskünstler aus der Geschichte herauszuhalten, da ich, spätestens wenn die Sprache auf Mick Ronson kommt, daran erinnern werde, daß er Dylan auf der legendären Rolling-Thunder-Tour begleitet hat. Ronson war von 1970 bis 1973 nicht nur Gitarrist sondern quasi auch der verlängerte Arm von Bowie in dessen Begleitband. Kurz vor seinem Tod im April 1993 gab er dann noch einmal eine Gastrolle auf Bowies „Black Tie White Noise“. Weitere unvermeidliche Begriffe, wenn man über David Bowie schreibt, sind „Chamäleon“ und „Berliner Jahre“, die hiermit genannt wurden und nun nicht mehr auftauchen werden. Denn wir stehen mit „Ziggy Stardust“ noch ganz am Anfang, wenn schon nicht von Bowies Schaffen, so doch seiner Weltkarriere.

 

Der hatte seit Mitte der 1960er Jahre mit verschiedenen Bands, die sich The King Bees, The Manish Boys oder The Lower Third nannten, noch recht ziellos im Nebel gestochert. Anfangs geschah das unter seinem eigentlichen Namen Davie Jones. Als die Monkees mit ihrem Sänger Davy Jones auf die Überholspur wechselten, legte sich der Londoner Musiker in Anlehnung an den amerikanischen Pionier und Alamo-Helden Jim Bowie seinen heute noch gebräuchlichen Bühnennamen zu. Bis 1969 wurden mehrere Singles auf unterschiedlichsten Labels (Vocalion, Parlophone, Pye, Deram) herausgebracht, die allesamt erfolglos blieben und heute zum Teil ein kleines Vermögen kosten.

 

Am 21. Juli 1969 betrat der erste Mensch den Mond. Zehn Tage zuvor hatte Philips Bowies Single „Space Oddity“, auf der der fiktive Astronaut Major Tom seinen großen Auftritt hat, veröffentlicht. Die einsetzende Euphorie spülte die Platte bis auf Platz 5 der englischen Charts. Als sie 1975 in England von RCA wiederveröffentlicht und Bowies erster Nummer-1-Hit wurde, lag das nicht mehr am Thema, sondern einzig und allein an der enorm gewachsenen Popularität des Interpreten. Doch die Zeit direkt nach „Space Oddity“ war noch immer geprägt von einer gewissen Richtungslosigkeit und dem Suchen nach passenden künstlerischen Ausdrucksformen. Eine intensive Beschäftigung mit aktuellen Strömungen in Amerika und die Bekanntschaft mit Leuten wie Tony Visconti, Marc Bolan, Andy Warhol, Lou Reed und Iggy Pop, allesamt Querdenker und ebenfalls beständig Suchende, schärfte die Konturen. Auf „Hunky Dory“ (1971) bekommt man dann einen ersten Vorgeschmack dessen, was auf „Ziggy Stardust“ funkelnde Blüten treiben sollte: großes Songwriting, eine verführerische Mischung aus akustischem Folk, Rock'n'Roll und Psychedelia (die kurz darauf zu Glam Rock werden sollte), Make-up, betont androgynes Gebaren, dem ein immer provozierenderes Spiel mit Geschlechterrollen folgte sowie Science-Fiction-Anleihen.

Wir erinnern uns: 1968 erschien Erich von Dänikens höchst spekulatives wie amüsantes Buch „Erinnerungen an die Zukunft“, das eine völlig neue Sichtweise auf die Entstehung unserer Kulturen wählte. Im selben Jahr brachte Stanley Kubrick „2001: A Space Odyssey“, das schon Bowies ersten Hit deutlich inspiriert hatte, in die Kinos. Der Streifen wurde anfänglich noch belächelt, doch mit der Mondlandung schien plötzlich alles möglich. Außerdem etablierte Kubricks Werk eine neue Ästhetik und befreite das Science-Fiction-Genre durch Tiefgang und revolutionäre Tricks vom Mief eselsohriger Taschenbücher und B-Movies mit rührend lächerlichen Spezialeffekten. Die Landebahn, auf der am 6. Juni 1972 „Ziggy Stardust“ aufschlagen sollte, war angelegt.

 

Wie der ellenlange Albumtitel schon verrät, handelt die gesamte Platte (Achtung! Konzeptalbum!) vom Aufstieg und Fall des Ziggy Stardust und seiner Band, den Spiders from Mars. Dabei ist nicht so ganz klar, ob Ziggy tatsächlich ein Außerirdischer ist, oder lediglich ein Mensch mit Kontakten zu ebensolchen. Auf jeden Fall sind seine Absichten mehr als löblich, denn er will mit der Botschaft von Liebe und Frieden die Menschheit vor dem Untergang bewahren. Der wird gleich mit dem ersten Song der LP („Five Years“) in fünf Jahren vorausgesagt. Im folgenden „Soul Love“ kommen dann verschiedene Arten von Liebe zur Sprache, bis schließlich in „Moonage Daydream“ der Held der Geschichte eingeführt wird. Die Songs erzählen nicht wirklich eine zusammenhängende Story, aber ein paar Puzzleteile sind in jedem enthalten, so daß man sich das Geschehen ungefähr zusammenreimen kann. Ziggy hat als Rockstar einen gewaltigen Erfolg, läßt sich von diesem aber alsbald korrumpieren, verliert sich in sexuellen Ausschweifungen und Drogenkonsum, schlägt eine letzte Warnung in den Wind („Suffragette City“) und endet letztendlich tragisch („Rock'n'Roll Suicide“). Das alles klingt noch nicht sonderlich aufregend, aber in Verbindung mit einer damals noch erfrischend wirkenden Glam-Rock-Attitüde, den schneidenden Gitarrenriffs von Mick Ronson sowie den ebenfalls von ihm stammenden Streicherarrangements entfalten sich die meisten Stücke der Platte zu durchgeknallten Pop-Edelsteinen, denen einfach die Luft nicht auszugehen scheint. Kleine Ausnahme ist hierbei „It Ain't Easy“ (ein „Hunky Dory“-Outtake) des eher unbekannten Ron Davies. Es ist das einzige nicht von Bowie geschriebene Stück der Scheibe, und ich weiß bis heute nicht, wieso es sich überhaupt darauf befindet. Zumal von den Sessions in Londons Trident Studios im November 1971 bzw. Januar und Februar 1972 mit einer Neueinspielung von „Holy Holy“ und den Coverversionen „Around And Around“ und „Amsterdam“ noch Material vorhanden war, das eindeutig besser gepasst hätte.

 

Dreh- und Angelpunkt der Platte ist aus meiner Sicht das griffige und mit einem entrückten Refrain gesegnete „Starman“. Bereits im April 1972 als Single veröffentlicht und zwar positiv besprochen aber zurückhaltend gekauft, war es der Auftritt von Bowie und seinen Spiders bei Top of the Pops (6. Juli 1972), der es bis auf Platz 10 der englischen Charts schleuderte. Viele, die diesen grandiosen Auftritt vor dem Fernseher verfolgten, hielten die Nummer für eine reichlich verspätete Fortsetzung von „Space Oddity“. Ihnen war völlig entgangen, daß der Künstler auch in den vergangenen drei Jahren ausgesprochen aktiv gewesen war. Beflügelt durch den Erfolg der Single und eine ausgedehnte Tournee durch Großbritannien, die USA und Japan segelte die LP in der Heimat bis auf Rang 5 und in Amerika immerhin auf Rang 75 (gut 100 Plätze besser als „Hunky Dory“). Die Spiders from Mars setzten sich aus den selben Musikern zusammen, die auch auf der LP zu hören waren: Mick Ronson, Trevor Bolder (später Bassist bei Uriah Heep) und Schlagzeuger Woody Woodmansey. Während der 18-monatigen Tour gesellten sich ab und an auch illustre Gäste wie Matthew Fisher (Procol Harum), Pianist Mike Garson (der später auch für die Smashing Pumpkins und Nine Inch Nails in die Tasten griff) oder Promi-Drummer Aynsley Dunbar hinzu.

Die drei Original-Spiders hatten bereits auf „Hunky Dory“ mitgewirkt (Keyboarder Rick Wakeman entschied sich nach den Aufnahmen gegen eine weitere Zusammenarbeit und für eine aufstrebende Band namens Yes) und bildeten schon im Frühjahr 1971 den Kern eines von Bowies vielen Nebenprojekten: (The) Arnold Corns. Mit dieser Band nahm Bowie erste Versionen von Songs auf, die dann das Korsett von „Hunky Dory“ bilden sollten. Aber auch „Moonage Daydream“ und „Hang On To Yourself“ standen bereits auf dem Plan und wurden im Mai 1971 (also mehr als ein Jahr vor „Ziggy Stardust“) bei B&C Records als Single veröffentlicht. Später integrierte sie Bowie einfach mit geänderten Texten in das Album-Konzept.

 

Da Bowie sich offenbar eine Zeitlang mit der von ihm geschaffenen Kunstfigur völlig identifizierte (obwohl Ziggy Linkshänder war, Bowie nicht), war es nur legitim, daß er sie beim letzten Konzert der Tournee (London, 3. Juli 1973) öffentlich „beerdigte“. Bei dieser Gelegenheit entließ er auch gleich noch seine Band und erklärte das Ende seiner Karriere. Muß man Letzteres als offensichtlichen Marketing-Gag einstufen, war Ziggys Zeit tatsächlich abgelaufen. Für ihn war einfach kein Platz mehr im sich ständig verändernden Kosmos seines Schöpfers. Gut vierzig Jahre später wissen wir natürlich, daß mit der Figur nicht auch die Faszination des Albums verloschen ist. Bei Fans und Kritikern steht das Werk nach wie vor ganz hoch im Kurs und gilt als ein früher Höhepunkt des Glam Rock. Großartiger, origineller, intelligenter, kurz: besser sollte es in diesem Genre nicht mehr werden.

 

In Bowies Diskografie der frühen Jahre geht es häufig drunter und drüber. Da gibt es zwei verschiedene LPs mit gleichem Titel („David Bowie“ 1967 auf Deram und 1969 auf Philips), Nachauflagen bekommen andere Namen und/oder Cover und die Veröffentlichungspolitik bei den Singles ist häufig kaum nachvollziehbar. So folgte auf „Starman“ im September 1972 das nicht auf dem Album enthaltene „John, I'm Only Dancing“ mit (immerhin) „Hang On To Yourself“ auf der B-Seite. Im April 1973 wurde diese Single nochmals veröffentlicht, mit identischer Katalognummer, aber in einer anderen Version (jetzt mit Saxophon). Im November 1972 wurde dann der Titelsong (nennen wir ihn mal so) von „Ziggy Stardust“ auf einer 45er verewigt, wieder als B-Seite. Auf Seite 1 fand sich „The Jean Genie“, eine Vorabauskopplung aus dem nächsten Album („Aladdin Sane“). Die Verwurstung der „Ziggy“-Nummern ging noch eine Weile so weiter. Das alles läßt sich im Netz ausführlichst nachlesen.

 

Auch das Album selbst weist ein paar verwirrende Aspekte auf. Dazu muß man wissen, daß Bowies Plattenvertrag (vor „Hunky Dory“) mit RCA in den USA abgeschlossen wurde. Die englische RCA war also lediglich so etwas wie der Vertriebspartner, auch wenn die Platte unter ihrer Regie aufgenommen wurde. Aus welchen Gründen auch immer, jedenfalls ist es recht offensichtlich, daß die Engländer sich ihre eigene Kopie zogen, bevor das Masterband zur endgültigen Fertigstellung zum Hauptquartier über den Großen Teich geschickt wurde. Das sieht man nicht nur an den unterschiedlichen Matrixnummern, man hört es auch. Selbst für Ungeübte ist zum Beispiel der Morse-Code, der bei „Starman“ vor dem Refrain piepst, auf der englischen Platte wesentlich lauter als auf denen, die von US-Kopien abstammen (also ziemlich allen).

Drei Ausgaben liegen hier vor mir. Und gleich die erste, eine englische (RCA Victor SF 8287), bedarf einiger Erklärungen. Um teure Fehlkäufe zu vermeiden, sollte man wissen, woran man eine englische Erstpressung erkennt. Da wären zuerst die credits auf den Labels. Beim Original lauten sie „Titanic Music / Chrysalis Music“, bei Nachauflagen „MainMan / Chrysalis“ (siehe Bildleiste). MainMan war eine Managementfirma von Tony DeFries, die unter anderem auch David Bowie betreute. Sie wurde im September 1972 gegründet, was die geänderten credits erklärt. Auch findet sich ab diesem Zeitpunkt das MainMan-Logo auf der Coverrückseite. Doch auch vom „Original“ gibt es zwei verschiedene Varianten. Aus eingangs erwähnten Gründen bekamen die Engländer lediglich ein US-Cover zur Verfügung gestellt, inklusive US-Katalognummer. Die wurde mit der englischen überklebt und eine Kopie angefertigt. Das geschah dermaßen dilettantisch, daß man die Korrektur deutlich sehen konnte, und das Covermotiv unscharf war. Beim zweiten Versuch wurde es dann etwas besser, während man danach ein eigenes Artwork verwendete. Apropos Artwork. Die Fotos für die Front- und Rückseite wurden von Brian Ward an einem eiskalten Januarabend 1972 in der Heddon Street in London mit einem Schwarz-Weiß-Film gemacht und später koloriert. Die alte Telefonzelle wurde irgendwann entfernt und nach Fan-Protesten schnell durch eine neuere ersetzt. Neben dem Tower und dem Zebrastreifen in der Abbey Road dürfte sie zu den beliebtesten Motiven für Touristen gehören. Das Firmenschild „K.West“ wurde durch einen Fan „sichergestellt“, ebenfalls erneuert, nur um wieder in einer Sammlung zu landen.

Doch zurück zu meiner Pressung. Sie hat bereits auf der Rückseite oben links das RCA-Logo sowie den Preiscode „HH“, was sie eindeutig als fünfte Ausgabe kennzeichnet. Erscheinungsjahr ist wohl 1973. Auch diese LPs werden hier mitunter noch zu herzhaften Preisen angeboten, sind aber in ihrem Herkunftsland verhältnismäßig günstig zu finden.

Die Scheibe klingt, wie eine gute Rock-Platte klingen sollte: kraftvoll, mit ordentlich Bass und Schlagzeug, herausstechendem Gesang und einem transparenten Gruppensound.

Mein deutsches Exemplar (RCA Victor LSP 4702, 1972) kann da nicht ganz mithalten, ist aber immer noch wirklich gut. „Starman“ kommt im US-Mix. Aber während die englischen Vorlagen lediglich mit einer bedruckten Innenhülle aufwarten, hat diese ein laminiertes Klappcover mit den Texten und Fotos auf der Innenseite. Auch die Farben wirken etwas kräftiger. Ein richtiges Schmuckstück!

1981 legte dann MFSL Stan Rickers Half-Speed-Mastering vor (MFSL 1-064). Nun kenne ich längst nicht alle Produkte dieser High-End-Schmiede, aber ich kenne die vielen Vorwürfe, den Einsatz zum Beispiel von Equalizern (vor allem in den frühen Jahren) betreffend. Hier kann man sich beruhigt zurücklehnen. Erstens übertreibt es Ricker nicht, zweitens verträgt gerade der Glam-Sound eine kleine „Aufhübschung“ ganz gut. Ich finde das Ergebnis ausgesprochen gelungen. Bevorzugen Sie, „Ziggy Stardust“ in eher mondäner Atmosphäre in der Royal Albert Hall zu hören, greifen Sie zur MFSL-Ausgabe (allerdings nicht ganz billig). Steht Ihnen der Sinn eher nach einem Pub (nicht so ein finsterer Laden mit angetrunkenen Stammgästen, sondern einer voller Musik-Enthusiasten, in dem das wahre Leben tobt), dann könnte eine frühe englische Pressung genau Ihr Ding sein. Für den „loud mix“ von „Starman“ brauchen Sie die sowieso. Allerdings will ich, nur weil ich sie nicht habe, nicht verschweigen, daß die „40th Anniversary Edition“ (EMI DBZSLP 40, 2012), die von Original-Produzent Ken Scott bearbeitet wurde, fast durch die Bank und über den grünen Klee gelobt wird. Natürlich steht auch auf der Rückseite dieser Ausgabe „To Be Played At Maximum Volume“. Und das kann ich nur empfehlen! Die Platte gewinnt dadurch tatsächlich noch einmal (hingegen brachte das Tragen auffällig gefärbter Schlaghosen beim Hören gar nichts). Sollten sich Ihre Nachbarn beschweren kommen, trösten Sie sie damit, daß sie bei dieser Lautstärke wenigstens nicht mitbekommen, wie Sie euphorisch mitsingen. Denn das läßt sich nicht vermeiden. Und jetzt alle: „Ziggy played guitar“!

 

Musik: 9,0

Klang: 9,0 (England, 1973)

Klang: 8,0 (Deutschland, 1972)

Klang: 9,0 (USA, 1981)

 

Ronald Born, August 2014