Johnny Cash – The Fabulous Johnny Cash (1958)

 

Ich behaupte jetzt einfach mal, daß das Interesse an Johnny Cash ohne sein beeindruckendes wie überraschendes Spätwerk heute auf einem deutlich niedrigeren Niveau läge. Ebenso würde sich das alles in einer sehr überschaubaren Altersklasse abspielen. Und auch der Antrieb, Neuauflagen seiner frühen Platten zu initiieren, ließe sich wohl auf reine Liebhaberei reduzieren. Die seit 1994 veröffentlichten „American Recordings“ machten Cash jedoch plötzlich auch für jüngere Generationen interessant und endgültig zum Mythos. Es steht nun allerdings zu befürchten, daß die Fortsetzung der äußerst erfolgreichen Serie in Leichenfledderei ausartet. Bevor man also Material aus den dunkelsten Ecken des Archivs zusammenkehrt, sollte man besser über eine angemessene Vinyl-Ausgabe zumindest der ersten drei CDs der „Unearthed“-Box (2003) ernsthaft nachdenken. Es wäre fahrlässig, dieses Feld allein zwielichtigen Geschäftemachern zu überlassen. Das halbe Dutzend „Unearthed“-Aufnahmen, das sich auf der täuschend echt gestalteten Bootleg-LP „American Rarities: Heart Of Gold“ findet, läßt die Wucht der CD-Versionen jedenfalls restlos vermissen.

 

Doch zurück zum Anfang der Geschichte. Johnny Cashs Biographie ist bestens dokumentiert. Wer nicht gern liest, erhält mit dem Film „Walk The Line“ (2005) einen so liebevoll wie detailversessenen Überblick über die frühen Jahre des Künstlers, die Wurzeln seiner Integrität, Bodenständigkeit, Religiosität und Unberechenbarkeit.

Im Gegensatz zu Elvis Presley hatte Cash seinen Dienst in der Army (ebenfalls hauptsächlich in Deutschland) bereits hinter sich, als er im Jahr 1955 bei Sam Phillips von Sun Records anklopfte. Zusammen mit den Tennessee Three hoffte er, mit Gospelsongs Eindruck zu schinden. Phillips schickte die jungen Männer mit der Bemerkung wieder nach Hause, daß sich Gospel nicht verkaufen lasse. Daraufhin verließ Red Kernodle entnervt die Band, Gitarrist Marshall Grant wechselte an den Baß und Luther Perkins tauschte seine akustische gegen eine elektrische Gitarre. Mit zwei Cash-Songs im Countrystil („Cry! Cry! Cry!“ und „Hey, Porter“) zog das Trio dann doch noch den gewünschten Plattenvertrag an Land. In den folgenden drei Jahren nahm man zwei LPs für Sun auf und bescherte dem kleinen Label aus Memphis vier Nummer-1-Hits in den Country-Single-Charts.

 

Am 17. Juli 1958 fand die letzte Aufnahmesession für Sun statt, und schon eine Woche später begannen die Arbeiten am ersten Album für Columbia Records. Neben unterschiedlichen künstlerischen Ansichten zwischen Cash und Phillips waren es wohl auch finanzielle Unstimmigkeiten, die den Sänger auf das lukrative Angebot von Columbia eingehen ließen. Die erste Single für das neue Label, „All Over Again / What Do I Care?“, konnte mit beiden Songs in den Pop-Charts punkten. Für „The Fabulous Johnny Cash“ wurden die Stücke jedoch nicht berücksichtigt. Der Protagonist steuerte gleich fünf Eigenkompositionen für die LP bei, die er offensichtlich aus seiner Zeit bei Sun Records zurückgehalten hatte. Das Liebeslied „Run Softly, Blue River“ eröffnet den Reigen, unterlegt mit Luther Perkins' wohlbekanntem Boom-Chicka-Boom. Das ebenfalls als Cash-Titel ausgewiesene „Frankie's Man, Johnny“ basiert auf der zu Beginn des Jahrhunderts entstandenen Ballade „Frankie And Albert“, aus der später „Frankie And Johnny“ werden sollte. In Sean Wilentz' Buch „Bob Dylan und Amerika“ (Reclam, 2012) wird die Geschichte des Songs minutiös erzählt. Dylan selbst hatte „Frankie And Albert“ 1992 für „Good As I Been To You“ wieder ausgegraben.

 

Die herausragenden Songs aus eigener Feder sind hier aber definitiv „I Still Miss Someone“ und „Don't Take Your Guns To Town“, die auch die zweite Columbia-Single bildeten. Ersterer richtet sich wohl an Cashs Frau June Carter und erschien als B-Seite. Eine Live-Aufnahme findet sich unter anderem auf „At Folsom Prison“ (1968). Im Frühjahr 1971 konnten dann einige Auserwählte in Bob Dylans Dokumentation „Eat The Document“ Cash und Dylan beobachten, wie sie auf dessen 1966er Europa-Tournee in fragwürdigem Zustand das Stück Backstage in Cardiff anstimmten. 1969 versuchten sich die beiden dann im Rahmen der Sessions zu „Nashville Skyline“ erneut daran. Das Ergebnis war weitaus erfreulicher, was auch daran lag, daß mit Marshall Grant und Bob Wootton, der den 1968 tragisch ums Leben gekommenen Luther Perkins ersetzt hatte, Cashs versierte Begleiter zugegen waren. Auf eine Veröffentlichung wartet diese Aufnahme bis heute vergeblich, wenn man die zahllosen Bootlegs einmal ignoriert, auf denen sie zu finden ist. Die Kollaboration der beiden Galionsfiguren entwickelt zwar einen ganz eigenen Charme und ist historisch bedeutungsschwanger, seine Sternstunde erlebte „I Still Miss Someone“ jedoch in der ersten Folge der „Johnny Cash Show“, die bis 1971 58 Mal vom Fernsehsender ABC ausgestrahlt wurde. Am 7. Juni 1969 war dort eine noch mehr oder weniger unbekannte Joni Mitchell zu erleben, die das Stück im herzerweichenden Duett mit Cash sang. Es war übrigens die gleiche Show (aufgezeichnet am 1. Mai), bei der der Gastgeber gemeinsam mit Dylan „Girl From The North Country“ aufführte. Sie kennen ja sicherlich youtube...

 

Don't Take Your Guns To Town“ wurde ein weiterer Top-Hit in den Country-Charts und erreichte auch einen respektablen 32. Platz bei den Pop-Singles. Der dramatische Song über den Jungen, der in die Stadt reitet und das Flehen seiner Mutter ignoriert, doch die Knarre zu Hause zu lassen, ist nur vordergründig eine Western-Ballade. Man kann ihn auch als Allegorie auf eine in Waffen vernarrte Nation sehen. Nur mag die eindringliche Warnung scheinbar auch 55 Jahre später kaum jemand vernehmen. Wie schrieb Wolfgang Doebeling im Rolling Stone so ernüchtert wie treffend: „...als Single ein Hit, als Botschaft in den Wind gepisst.“.

 

Thematisch unterscheidet sich „The Fabulous Johnny Cash“ kaum von seinen Vorgängern. Die Liebe in all ihren Variationen wird besungen und Biographisches eingestreut („Pickin' Time“). Aber es finden sich mit „That's Enough“ und „Shepherd Of My Heart“ auch zwei Gospel-Nummern. Wollte hier jemand seinem ehemaligen Brötchengeber beweisen, daß sich dergleichen Material durchaus verkaufen läßt? Entlastend für Sam Phillips sei bemerkt, daß der sicherlich nicht im Traum an eine Zusammenarbeit mit den Jordanaires gedacht hatte. Was die, seit 1956 fast untrennbar mit Elvis verbunden, gerade auf „That's Enough“ veranstalten, hätte sicher auch Phillips bekehrt. Sie sind auch noch auf einigen anderen Stücken zu hören, und ihr lieblicher, perfekter Satzgesang schafft wundervolle Kontraste zu Cashs bestimmendem Bariton.

Neben den Genannten waren an den Aufnahmen unter anderem auch noch Hank Williams' ehemaliger Begleiter Don Helms an der Steel-Guitar sowie Nashvilles damals begehrtester Drummer Buddy Harman beteiligt.

Eine Spielzeit von weniger als einer halben Stunde war in jenen Jahren für LPs nicht unüblich. „Klasse statt Masse“ trifft es hier ganz gut. Unter den 12 Songs findet sich kein einziger, der als Lückenfüller bezeichnet werden müßte. Don Law trat erstmals als Cashs Produzent in Erscheinung und sollte den Job erst zehn Jahre später an Columbia-Legende Bob Johnston übergeben.

 

Das Album erschien im November 1958 und erreichte im Januar des nächsten Jahres mit Platz 19 seine beste Chartsnotierung. Das Coverfoto stammt von Hal Adams, während Haus- und-Hof-Fotograf Don Hunstein, der ab 1962 dann auch Bob Dylan zu seinen Stammkunden zählte, das Bild auf der Rückseite beisteuerte.

In Amerika wurde die Platte mit dem legendären „6-eye“-Label veröffentlicht (CL 1253 / CS 1822). Die älteste mir vorliegende Ausgabe stammt aus England. Von 1952 bis 1962 wurden dort die Produktionen der amerikanischen Columbia von Philips veröffentlicht, so auch „The Fabulous Johnny Cash“ (Philips BBL 7298 / SBBL 554). Cash-Singles gab es in England bis 1959 parallel zu den Exemplaren mit 45er Geschwindigkeit auch noch als 78er 10“-Pressungen! Um Columbias Präsenz auf dem europäischen Markt zu verbessern, wurde 1962 CBS ins Leben gerufen. Allerdings ließ man englische Platten auch weiterhin bei Philips fertigen, bis man im Herbst 1964 mit dem Kauf von Oriole Records endlich auch über ein eigenes Presswerk verfügte. Unter der Katalognummer SBPG 62042 erschien Johnny Cashs erste LP für Columbia dann 1962 in England zum ersten Mal auch mit dem CBS-Label. Das Label meiner Platte verrät ein Erscheinungsdatum um den Jahreswechsel 1967/68 (siehe dazu auch den Eintrag zu Simon & Garfunkel). Sie klingt sehr natürlich und weiträumig, mit der für die damalige Zeit üblichen strikten Trennung der Stereokanäle. Cashs Stimme steht genau da, wo sie hingehört, nämlich im Vordergrund. Die so sparsame wie stilvolle Instrumentierung und der Begleitgesang halten sich dezent im Hintergrund, erfüllen aber genau dort ihre Aufgabe perfekt. „Fabulous“!

 

2012 legte die sehr umtriebige italienische Firma Doxy eine Neuauflage vor (DOK316), die wohl auf digitalen Quellen beruht. Dennoch überrascht der Klang trotz etwas erhöhtem Grundrauschen positiv. Auch preislich gibt es nichts auszusetzen, zumal auch noch eine CD beigelegt wurde. Nur mitten in „Pickin' Time“ sackt der Sound plötzlich ab, erholt sich aber schnell wieder. Ob dieser Fehler auch auf der CD zu hören ist, kann ich nicht mehr überprüfen, da ich diese einem guten Freund geschenkt habe.

Absolut fehlerfrei tritt hingegen die 2011er Pressung von Impex (CS 8122, limitiert auf 3000 Stück) auf, die auch in Sachen Dynamik klar die Nase vorn hat. Sie ist gut zehn Euro teurer als die Doxy-LP, und man hört deutlich, warum. Vom Cover bis zum „6-eye“-Label wird hier größter Wert auf eine originalgetreue Reproduktion gelegt. Beide Neuauflagen übertreffen sogar die avisierten 180 Gramm, während die alte CBS-Pressung sehr respektable 164 Gramm aufbringt.

Die 2012 für Columbia bei RTI gefertigte Ausgabe ebenso wie die von Music On Vinyl (2013) sind Mono-Pressungen und konnten deshalb hier nicht berücksichtigt werden.

 

Musik: 8,5

Klang: 8,5 (England, 1968)

Klang: 9,0 (USA, 2011)

Klang: 7,5 (Italien, 2012)

 

Ronald Born, Oktober 2013