Bob Dylan – Oh Mercy (1989)

 

Nachdem ich nun seit gut einem Jahr in fast 40 Rezensionen versucht habe, Ihnen Platten unterschiedlichster Musiker und Bands näher zu bringen, halte ich die Zeit für gekommen, die LP eines Künstlers vorzustellen, der hier bereits ausführlich behandelt wurde. Die Wahl dürfte Stammleser nicht überraschen.

 

Wohl nie zuvor hat das Erscheinen eines neuen Albums von Bob Dylan durch die Bank die selbe Reaktion ausgelöst, wie an jenem 12. September 1989: erleichtertes Aufatmen.

Hatte die weltweite Fangemeinde 1983 noch geglaubt, mit „Infidels“ das Ende einer Durststrecke feiern zu können, sollte sie in den folgenden Jahren mit zwei mäßigen Live-Platten und drei erschreckend lieb- und einfallslosen Studio-LPs auf eine harte Geduldsprobe gestellt werden. Die opulente Werkschau „Biograph“ (1985) verdeutlichte nur umso schmerzlicher, daß die Zeiten, da Dylan (wenn auch nicht ganz freiwillig) die „Stimme einer ganzen Generation“ gewesen war, seine Songs und Auftritte hitzige Diskussionen auslösten, er schlicht und ergreifend etwas zu sagen hatte, nur noch in der Erinnerung präsent waren. Einer der wenigen Lichtblicke, die erfrischende Zusammenarbeit mit der Altherrenriege Traveling Wilburys, zeigte zumindest, daß Dylan, entsprechende Mitstreiter und Atmosphäre vorausgesetzt, der Spaß noch nicht ganz abhanden gekommen war, und auch kommerzieller Erfolg kein Fremdwort mehr bleiben mußte.

 

Im ersten Band seiner Autobiographie „Chronicles“ widmet Bob Dylan der Entstehung von „Oh Mercy“ ein ganzes Kapitel. Auf über 80 Seiten schildert er sehr anschaulich und glaubwürdig, wie ausgebrannt und desillusioniert er zu jener Zeit war, wie er jedoch Hoffnung schöpfte, durch Veränderungen seines Gesangsstils und musikalischer Strukturen zumindest live frischen Wind entfachen zu können. Eine schwere Verletzung seiner Hand stürzte ihn jedoch erneut in tiefe Depressionen, die auf wundersame Weise über Nacht mit dem Lösen einer anhaltenden Schreibblockade endeten. In kurzer Zeit schrieb er in seinem Haus die meisten der Songs, die dann auf dem Album erscheinen sollten. Zunächst landeten die aber erst einmal in einer Schublade, denn: „Ich glaubte nicht daran, daß ich noch eine gute Platte machen konnte – nicht in hundert Jahren.“.

 

Als Bono ihn eines Abends besuchte und einen Kasten Guinness mitbrachte, zeigte Dylan ihm zu vorgerückter Stunde die Textentwürfe. Wie nicht anders zu erwarten, ermutigte der U2-Sänger ihn, die Songs aufzunehmen und empfahl auch gleich den Produzenten Daniel Lanois. Bei ihren letzten beiden Platten hatten die Iren mit ihm zusammengearbeitet, und Bono hatte dessen konstruktive Beiträge sehr geschätzt. Also rief er Lanois an und reichte Dylan den Hörer.

Am Tag nach einem Auftritt in New Orleans (es muß also der 26. September 1988 gewesen sein) trafen sich Dylan und Lanois im Innenhof eines Hotels, und nach einer Stunde war das Eis gebrochen. Am Ende des Tages lud der Produzent Dylan noch in sein Studio ein, um ihm ein paar Aufnahmen vorzuspielen, an denen er gerade arbeitete. Es waren Stücke des neuen Albums der Neville Brothers („Yellow Moon“), unter denen sich zufällig auch zwei alte Dylan-Nummern befanden. Dem gefiel, was er hörte, und so verabredete man sich für das nächste Frühjahr.

 

Nachdem Dylan in den letzten Jahren hauptsächlich in New York oder Los Angeles aufgenommen hatte, genoß er sichtlich die Lockerheit, das Klima und die angenehmen Temperaturen (zumindest im März) sowie die von unzähligen kulturellen Einflüssen durchdrungene Atmosphäre New Orleans', das gegenüber den Metropolen eher wie eine Kleinstadt wirkte. Daniel Lanois hatte eine Schar lokaler Musiker für die mehrwöchigen Sessions gebucht, von denen die meisten (Brian Stoltz, Tony Hall, Malcolm Burn, Willie Green und natürlich Cyril Neville) bereits auf „Yellow Moon“ mitgewirkt hatten. Der Texaner Mason Ruffner, damals einer der gefragtesten Session-Gitarristen im Mississippi-Delta, vervollständigte die Runde.

Wie die Arbeit an der Platte vonstatten ging, wie Dylan und Lanois bald um jede Melodielinie, jedes Detail der Arrangements rangen (und ersterer häufig nachgab), können Sie ausführlich in oben erwähntem Buch (Hoffmann und Campe, 2004) nachlesen. Sollten Sie es noch nicht besitzen, nehmen Sie diese Zeilen doch gleich zum Anlaß, es sich zumindest einmal auszuleihen. Überraschende Einblicke und großartige Geschichten erwarten Sie!

 

Daniel Lanois hatte lange mit Brian Eno zusammengearbeitet, was seine Vorlieben für Effektgeräte, Hall und technische Aufnahmetricks zumindest teilweise erklärt. Fast alle Stücke wurden zigmal eingespielt, in unterschiedlichen Besetzungen, mit geändertem Tempo, mit einem anderen Rhythmus. Und am Ende wurde der favorisierten Aufnahme auch noch ein Solo oder ein zusätzlicher oder runderneuerter Gesangspart hinzugefügt. Das Resultat ist dann ein paar Kritikern und Fans, denen der Einfluß des Produzenten entschieden zu weit ging, auch arg in die Nase gefahren. Mir hingegen gefiel der Sound schon 1989. Und er gefällt mir immer noch.

Sumpfig“ ist wohl eine recht treffende Beschreibung. Nicht mit „dumpf“ oder „modrig“ zu verwechseln, bezieht sie sich auf die brodelnde Atmosphäre. Durch den Einsatz von Dobro und Lap-Steel-Gitarre, die er selbst spielte, gelang es Lanois, jemandem wie mir, der noch nie auch nur in der Nähe von New Orleans war, zumindest vorzugaukeln, in der Basin Street zu sitzen und Jambalaya zu essen, während die Platte läuft. Alles fließt, und manchmal groovt es auch. Vor allem aber gelang es dem Produzenten, Dylan so entspannt und gleichzeitig konzentriert singen zu lassen, wie seit Jahren nicht mehr.

 

Hört man sich im Vergleich die Platte der Neville Brothers an, fällt auf, daß „Oh Mercy“ mit weniger „Voodoo“ auskommt, insgesamt transparenter und in sich stimmiger klingt. Daß das Songmaterial in einer anderen Liga spielt, konnte man vorher nur hoffen, nicht aber erwarten. Keine Lückenfüller mehr, kein Fremdmaterial, sondern Stücke, die allesamt auch 25 Jahre später noch bestehen können. Bis zum Juni 1990 hatten ausnahmslos alle ihre Feuertaufe auf irgendeiner Bühne erlebt, ein einmaliger Vorgang, der deutlich macht, daß Dylan trotz der Unzufriedenheit mit einigen Aufnahmen der LP an der Qualität der Songs an sich keinen Zweifel hegte. Wir begegnen einem Künstler, der noch immer unsicher ist (vor nicht allzu langer Zeit trug er sich ernsthaft mit dem Gedanken, sich zurückzuziehen oder zumindest bei Grateful Dead einzusteigen), dessen Privatleben offensichtlich im Chaos zu versinken droht, was man aus „Everything Is Broken“ und vor allem dem hitzeflirrenden „Most Of The Time“ heraushören kann. „Political World“ kommentiert die aktuelle Situation, in der sich die Welt befindet, überläßt eine Wertung aber klugerweise dem Zuhörer. Auch religiöse Einflüsse finden sich noch reichlich, der Eiferer der frühen 1980er Jahre ist jedoch zum Glück verschwunden. Bei „Ring Them Bells“, einem der schönsten Weihnachtslieder überhaupt, stellt man sich dann die Frage, warum in aller Welt jemand, der so etwas zu schreiben vermag, „Winter Wonderland“ oder „Little Drummer Boy“ aufnehmen mußte („Christmas In The Heart“, 2009)! Das einsame und schmerzvolle „Shooting Star“, das Dylan komplett in New Orleans geschrieben hatte, beschließt die Platte. Eine etwas optimistischere Nummer hätte nur die Magie des Albums zerstört. Aus all dem großartigen Material ragt jedoch ein Lied noch weit empor: „Man In The Long Black Coat“, brennend, furchteinflößend, apokalyptisch. Die Aufnahme gehört zweifellos zu den besten und vielschichtigsten in Dylans Karriere, der Song selbst ist neben „Blind Willie McTell“ der aufregendste und ergreifendste eines ganzen, ansonsten eher durchwachsenen, Jahrzehnts.

 

Die beste Coverversion, die ich von diesem Stück kenne, stammt von Gerulf Pannach, dem die Klaus Renft Combo einige ihrer unbequemsten Texte verdankte. „Mann im schwarzen Rock“ findet sich auf seiner CD „Yorck 17“ (1996) und fängt in Übersetzung wie Musik die Beklemmungen und Ängste des Originals überzeugend ein. Reinhören!

Mit weniger als 40 Minuten Spielzeit ist „Oh Mercy“ ein recht kurzes Album (wenn auch längst nicht das kürzeste in Dylans langer Karriere). Wenn man dann weiß, daß „Born In Time“ (später für „Under The Red Sky“ nochmals eingespielt), „Dignity“ (1994 auf „Greatest Hits Vol.3“ veröffentlicht) und „Series Of Dreams“ (1991 auf der ersten Ausgabe der „Bootleg Series“ erschienen) ebenfalls damals in New Orleans entstanden, bleibt einem lediglich erneut die Frage: Wie konnte er nur!? Niemand weiß, wieso er diese drei wunderbaren Stücke mit Mißachtung strafte und erst verspätet und eher beiläufig unters Volk brachte. Auf „Tell Tale Signs“ („The Bootleg Series Vol.8“, 2008) finden sich verschiedene Alternativversionen dieser Songs sowie von „Most Of The Time“, „Everything Is Broken“ und „Ring Them Bells“, die zum Teil stark von den LP-Fassungen abweichen und einen tiefen Einblick in die Arbeitsweise in „The Studio“ bieten. Ja, auch diese Veröffentlichung muß ich Ihnen ans Herz legen. Neben diversen interessanten Outtakes aus den Jahren 1989 bis 2006 sind allein schon das bis dahin unveröffentlichte „Red River Shore“ sowie „'Cross The Green Mountain“ vom „Gods And Generals“-Soundtrack das Geld wert. Letzteres ist für mich persönlich bis heute das umwerfendste Stück Dylans seit „Man In The Long Black Coat“, und die LP (von mir aus auch die CD) erlaubt dessen Genuß, ohne sich vorher ein quälend langes Bürgerkriegsdrama ansehen zu müssen, da der Song dort erst im Abspann kommt.

Bevor Sie nun aber in den nächsten Plattenladen stürzen, bin ich Ihnen noch eine Empfehlung für „Oh Mercy“ schuldig.

 

Als die Platte im Herbst 1989 herauskam, wurde sie von den meisten Kritikern in den höchsten Tönen gelobt. Auch der (zumindest für Dylans Verhältnisse) moderne Sound wurde von vielen wohlwollend registriert. Vereinzelt wurde aber auch Kritik an der vermeintlichen Überproduktion laut, die ich nicht nachvollziehen kann, und ich vermute, daß sie eher mit persönlichen Vorbehalten gegenüber dem Produzenten zusammenhing. Allerdings hatte auch Dylan selbst nach Fertigstellung des Albums einige Zweifel, ob Lanois wirklich die richtige Wahl gewesen war. 1997 engagierte er den Kanadier jedoch für „Time Out Of Mind“ erneut als Produzenten.

Oh Mercy“ erreichte in den USA Platz 30, in Deutschland Platz 37 und in England sogar Rang 6 der LP-Charts und verkaufte sich auch in den folgenden Jahren recht gut. Als erste Single wurde „Everything Is Broken“ ausgekoppelt. Im Januar 1990 folgte noch „Political World“. Beide hielten sich von den Charts fern. Dylans letzter Top-10-Hit lag inzwischen 20 Jahre zurück („Lay Lady Lay“).

 

Die Platte klingt schon von Haus aus nach Mississippi, schwülen Abenden auf der Veranda, Grillenzirpen und gekühlten Getränken. Endlich wieder steht nicht nur ein Produzentenname auf dem Cover (dessen poppige Vorderseite das graffitiartige Wandbild eines New Yorker Straßenkünstlers, der sich Trotsky nennt, ziert), sondern man spürt förmlich, daß sich hier jemand ernsthaft Gedanken gemacht hat! Breite Bühne, nicht übermäßig tief, mit dieser wohlbekannten und doch irgendwie erneuerten Stimme im Zentrum. Das trifft schon auf die beiden Exemplare aus dem Erscheinungsjahr, eine holländische (CBS 465800 1) und, aus aktuellem Anlaß, eine brasilianische (CBS 177.207) Pressung zu, wobei bei der Exotin ein leicht höheres Grundrauschen und etwas weniger Druck zu verzeichnen sind. 2005 legte dann der englische Spezialist Simply Vinyl eine 180-Gramm-Ausgabe vor (Simply Vinyl SVLP 319). Nun sei nicht verschwiegen, daß die Produkte jener Firma bei Sammlern, die gesteigerten Wert auf klangliche Eigenschaften legen, eher im unteren Drittel der Beliebtheitsskala angesiedelt sind. Ich selbst habe mehrere Dylan-Alben der Engländer im Regal stehen, alle tadellos gefertigt und mit stabilen sowie farbecht reproduzierten Hüllen und klanglich nicht überragend, aber besser als ihr Ruf. Genauso verhält es sich auch hier. Zur Originalpressung aus Holland kann ich keinen nennenswerten Unterschied feststellen, was allerdings die nicht unberechtigte Frage aufwirft, wozu man dann eine solche Wiederauflage braucht. Was man von Simply Vinyl wirklich braucht, ist „Street-Legal“ (SVLP 197, 2000), da es bis heute weltweit die einzige Vinylausgabe des Albums ist, die den sensationellen Remix von 1999 zu bieten hat!

Lediglich mit einem Remaster haben wir es beim vierten Exemplar, einer 2012er Ausgabe von Music On Vinyl (MOVLP659, ebenfalls knapp 180 Gramm) zu tun. Aber das ist rundum hervorragend gelungen. Der Mississippi wirkt noch breiter, die Luft auf der Veranda noch schwüler, die Getränke noch hochprozentiger. So hört man gleich zum Einstieg Willie Green am Schlagzeug Dinge tun, zu denen er vertraglich wahrscheinlich gar nicht verpflichtet war. Und diese kleinen Details werden, mal mehr, mal weniger, auf jedem Stück herausgeschält. Dicke Empfehlung für diese wirklich bezahlbare Neuauflage!

 

Musik: außer Konkurrenz

Klang: 8,5 (Holland, 1989)

Klang: 8,0 (Brasilien, 1989)

Klang: 8,5 (England, 2005)

Klang: 9,0 (Holland, 2012)

 

Ronald Born, Juni 2014