Neil Young – After The Gold Rush (1970)

 

Als Cream sich nach zwei letzten Konzerten in London Ende November 1968 auflösten, mußte die Welt kurzzeitig ohne Supergroup auskommen. Doch die nächste stand schon in den Startlöchern. Nach intensiven Proben, ebenfalls in London sowie auf Long Island und Aufnahmesessions in Kalifornien, erschien Ende Mai 1969 das bereits sehnsüchtig erwartete Debütalbum „Crosby, Stills & Nash“ und verkaufte sich innerhalb eines Jahres mehr als zwei Millionen Mal allein in Amerika. Für die sich anschließende US-Tour mußte eine Band zusammengestellt werden, und Atlantic-Chef Ahmet Ertegun schlug Neil Young vor. Der sagte zu, als man ihm völlige Handlungsfreiheit für seine Solo- und Band-Projekte mit Crazy Horse einräumte. Immerhin markierte sein eben erschienenes zweites Album „Everybody Knows This Is Nowhere“ den möglichen Beginn einer erfolgreichen Karriere unter eigenem Namen. Spätestens mit Youngs Einstieg betrat eine Band die Szene, wie man sie sich an den Reißbrettern der Marketingabteilungen nicht besser hätte erträumen können. Vier prominente Ex-Mitglieder der Byrds, der Hollies und von Buffalo Springfield machten gemeinsame Sache. Fast zu schön, um wahr zu sein! Verstärkt durch den Schlagzeuger Dallas Taylor und den blutjungen Bassisten Greg Reeves trat man erstmals in Chicago auf, bevor gleich der zweite Gig zum Woodstock-Festival führte. Dort spielte man hauptsächlich Songs vom Debüt, mit „4+20“ aber auch einen, der dann im März 1970 auf dem ersten gemeinsamen Album, „Déjà Vu“, zu finden sein sollte. Diese Platte, die zur bestverkauften LP des Jahres avancierte, zementierte den Superstar-Status sowohl der Band als auch ihrer Mitglieder. Schon mit der Namensgebung hatte man deutlich gemacht, daß es sich hier um vier Individualisten handelte, die nicht im Traum daran dachten, es sich im Schoß des Kollektivs gemütlich zu machen. Und so verwundert es nicht, daß alle im Kielwasser von „Déjà Vu“ Solo-LPs veröffentlichten. Natürlich gab es dafür auch wirtschaftliche Gründe, aber in erster Linie waren diese (allesamt empfehlenswerten) Platten kreativer Ausdruck von Künstlern, die durchaus etwas zu sagen hatten. Den Anfang machte Neil Young mit „After The Gold Rush“.

 

Erste Sessions mit Crazy Horse fanden bereits im August 1969 in Los Angeles statt. Don Gibsons „Oh Lonesome Me“, „I Believe In You“ und wohl teilweise auch „When You Dance I Can Really Love“ entstanden dort. Am Ende einer kurzen Promo-Tournee für „Everybody Knows This Is Nowhere“ gastierte man für vier Auftritte Anfang März 1970 im Fillmore East. Während Youngs Solo-Akustik-Sets noch auf eine Veröffentlichung warten müssen, wurden 2006 Teile der Show mit Crazy Horse im Rahmen der „Neil Young Archive Performance Series“ herausgebracht. Neben drei Songs des aktuellen Albums („Cinnamon Girl“ wurde im Fillmore zwar gespielt, war aber lediglich online verfügbar) gab es mit „Winterlong“, „Wonderin'“ und „Come On Baby Let's Go Downtown“ auch drei damals noch unveröffentlichte Nummern zu hören. Die neuen Stücke für „After The Gold Rush“ ließ man seinerzeit noch außen vor. Warum ich die Platte dann trotzdem erwähne? Weil „Live At The Fillmore East“, vor allem in der 200-Gramm-Ausgabe von Classic Records (44429-1), ein Muß für jeden ernsthaften Neil-Young-Sammler ist!

 

Schon eine Woche nach den Konzerten gingen die Sessions weiter, diesmal in Youngs Haus im Topanga Canyon. Der Gesundheitszustand des schwer drogenabhängigen Gitarristen Danny Whitten hatte sich inzwischen derart verschlechtert, daß er für Aufnahmen nicht mehr zur Verfügung stand. Er starb im November 1972 und konnte den großen Erfolg (vor allem in England) des von ihm geschriebenen „I Don't Want To Talk About It“ nicht mehr genießen.

Aber auch ohne Whitten versammelte Neil Young für die weiteren Aufnahmen eine Schar exklusiver Mitstreiter. Von seiner neuen Supergroup, die er gern komplett dabei gehabt hätte, half Stephen Stills bei einigen Harmoniegesängen aus, Greg Reeves spielte Baß. Von Crazy Horse blieb Schlagzeuger Ralph Molina. Jack Nitzsche, der schon bei den Fillmore-East-Konzerten dabei war, sorgte für ein paar zusätzliche Piano-Parts. Dieses Multitalent, das schon mit den Rolling Stones und Phil Spector gearbeitet, diverse Pop-Größen als Begleitmusiker unterstützt und als Co-Autor Hits wie „Needles And Pins“ und (später) „Up Where We Belong“ geschrieben hatte, sollte sich zwei Jahre später auf „Harvest“ noch wesentlich intensiver einbringen. Ein, im Vergleich zu den Kollegen, nahezu unbeschriebenes Blatt war der erst 18-jährige Nils Lofgren. Young hatte den Frontmann der Band Grin unter seine Fittiche genommen und kurzerhand ans Klavier gesetzt. Dessen einzige Qualifikation dafür bestand darin, vor Jahren einmal (wenn auch recht ernsthaft) Akkordeon gespielt zu haben. Danach war er zur Gitarre gewechselt. Um die Chance seines Lebens nicht zu vermasseln, übte Lofgren in jeder freien Minute zwischen den Sessions. Das sollte sich auszahlen. Nach den Aufnahmen stieg er bei Crazy Horse ein. Für deren Debütalbum steuerte er zwei Songs bei, spielte Gitarre und sang. 1974 begann er eine bis heute anhaltende und zuweilen recht erfolgreiche Solo-Karriere mit mehr als 20 Alben, die seit 1984 jedoch immer dann ruhen muß, wenn Springsteen seine E Street Band zusammentrommelt. Trotz all dieser Meriten ist er für viele noch immer „der Kleine, der mal bei Young Klavier gespielt hat“.

 

Im Gegensatz zum Vorgänger schwingt Neil Young auf „After The Gold Rush“ nicht mehr die ganz große Axt. Es herrscht eher eine rootsige, country-geschwängerte Atmosphäre, die nur gelegentlich durch Kracher wie „Southern Man“ oder „When You Dance I Can Really Love“ aufgebrochen wird. Klassischer Young also, wie man heute sagen würde. Und so warf das Album neben den beiden genannten mit „Tell Me Why“, „Only Love Can Break Your Heart“ und vor allem dem Titelsong noch weitere Stücke ab, die bis heute einen exponierten Platz im Katalog einnehmen. Auf der Rückseite des LP-Covers findet sich der Satz: „Most of these songs were inspired by the Dean Stockwell – Herb Berman screenplay 'After the Goldrush'“. Dieser mutmaßlich experimentelle Weltuntergangsstreifen wurde nie gedreht, aber Young hatte das Drehbuch gelesen. „Cripple Creek Ferry“ und eben „After The Gold Rush“ (mit seinem silbernen Raumschiff) lassen sich direkt darauf zurückführen. Bei Jim Jarmuschs Schwarz-Weiß-Western „Dead Man“ bewies Neil Young 1995, daß seine Kompositionen durchaus in der Lage sind, einen Film zu schultern.

 

Für sein drittes Album waren jedoch Songs und also auch Texte gefragt. Bei den meisten bediente sich Young einer Vielzahl von Metaphern. Ich erspare es mir und Ihnen, hier Mutmaßungen über deren tiefere Bedeutung anzustellen. Außerdem vermute ich, daß der damals 24-jährge bestimmte Formulierungen einfach verwendete, weil sie gut klangen. Bei den Doors zum Beispiel lief das nicht anders ab. Und dagegen ist nichts einzuwenden, wenn das Ergebnis weder banal noch bemüht wirkt, und die Phantasie des Zuhörers beflügelt wird.

Als Dolly Parton 1998 „After The Gold Rush“ für das zweite Trio-Album aufnehmen wollte, fragte sie Linda Ronstadt und Emmylou Harris, was der Song wohl bedeuten mag. Sie wußten es nicht. Also rief man Neil Young an, aber der wußte es auch nicht. Die Damen sangen das Stück dann natürlich trotzdem ein, jede wahrscheinlich mit anderen Bildern im Kopf. Und genau darum geht es doch. Egal, ob man nun Ufologe, Umweltaktivist oder einfach nur Zuhörer ist, dem Song gelingt es, jedem eine eigene kleine Geschichte zu erzählen.

 

In „Southern Man“ geht es weit weniger nebulös zu. Der damals in den Südstaaten nach wie vor zur Tagesordnung gehörende Rassismus wird scharf attackiert. Als Young 1972 mit „Alabama“ nachlegte, fühlte sich die Southern-Rock-Band Lynyrd Skynyrd zu einer Art Gegendarstellung berufen. In „Sweet Home Alabama“ wird Neil Young sogar namentlich erwähnt. Der gegenseitigen Wertschätzung taten die Meinungsverschiedenheiten keinen Abbruch. Gelegentlich trug Sänger Ronnie Van Zant gar ein Neil-Young-T-Shirt, wenn seine Band ihren Hit spielte, und im Film „Live Rust“ ist Crazy-Horse-Bassist Billy Talbot in einem Lynyrd-Skynyrd-Shirt im Jack-Daniels-Stil zu sehen. Nachdem im Oktober 1977 Van Zant sowie weitere Mitglieder der Band bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren, spielte Young bei Konzerten eine Version von „Alabama“, die in „Sweet Home Alabama“ überging.

 

After The Gold Rush“ erschien am 31. August 1970 (Reprise RS 6383). Gute und schlechte Kritiken hielten sich die Waage. Den Ruf, Youngs beste Platte zu sein, mußte es sich erst noch erarbeiten. Und obwohl ich eine unerklärliche Schwäche für „Ragged Glory“ habe und vor allem das zweite Album mit „Cinnamon Girl“, „Cowgirl In The Sand“ und besonders „Down By The River“ schwerstes Geschütz auffährt, gibt es Tage, an denen auch ich das sofort unterschreiben würde. In den Charts platzierte es sich mit Platz 8 in den USA, Platz 7 in England und sogar dem fünften Rang in Kanada ausgezeichnet, wurde aber später von „Harvest“ zumindest in dieser Beziehung in den Schatten gestellt. „Only Love Can Break Your Heart“ bescherte dem Künstler zudem mit Platz 33 die erste Top-40-Single in den USA. Auf der B-Seite findet sich eine Alternativversion von „Birds“, eingespielt mit Crazy Horse.

Da wir gerade dabei sind: auf der US-Erstpressung ist eine etwas kürzere Fassung von „When You Dance I Can Really Love“ enthalten, der das Gitarrensolo am Ende fehlt. Auch finden sich auf den Suchlisten ambitionierter Sammler weitere seltene US-Ausgaben. Ganz oben dürfte eine stehen, auf deren Frontcover der Albumtitel rot (oder eher rosa) gedruckt ist. Sie stammt aus dem Jahr 1976, als Capitol die Fertigung von Reprise-Platten übernahm. Vorher stellte man diese bei Columbia her. Der Fehler wurde schnell erkannt, und die Scheibe wieder vom Markt genommen. Aber auch davor gab es schon eine ähnliche Panne. Die Innenseite des Klappcovers wurde bei einigen wenigen Exemplaren versehentlich mit der von T.Rex' „Electric Warrior“ (auf dem Foto sitzt Marc Bolan in einem Sessel) ausgestattet. Natürlich ist auch dieser Fehldruck heute sehr gesucht. Sogar bei den Labels gibt es einen Favoriten: die RCA-Record-Club-Ausgabe mit mehrfarbigem Reprise/Warner-7Arts-Label.

 

Nun aber zu meiner US-Pressung. Die ist keine Erstpressung, aber eine sehr frühe. Auf der Coverrückseite steht noch „Piano: Nils Lofgren“. Die Herren Young und Nitzsche wurden erst später hinzugefügt. Die Matrixnummern lauten „31,009RE1/31,010RE2“, obwohl auf dem Label der B-Seite noch „31,010RE1“ (also die Nummer der ersten Ausgabe mit dem gekürzten „When You Dance“) gedruckt ist. Das Poster mit den kaum lesbaren Texten liegt (wie bis in die 80er Jahre üblich) bei. Genug Sammlerlatein. Diese und andere ähnlich frühe Pressungen gibt es zumindest in Amerika wie Sand am Meer. Entsprechend günstig sind sie auch zu haben. Die Kunst besteht darin, ein Exemplar aufzutreiben, das diverse Partys relativ unbeschadet überstanden hat. Hüten Sie sich davor, Geld für eine frühe Pressung auszugeben, deren Zustand vom (Internet-)Händler mit „m-“ eingestuft wird. Die gibt es nämlich praktisch seit 40 Jahren nicht mehr. Eine gut erhaltene US-Ausgabe ist jedoch immer ihr Geld wert. Sie klingt dynamisch, rockt, wenn es sein muß, ist über das gesamte Klangspektrum gut ausbalanciert und transportiert Atmosphäre ohne Ende. Bis vor 10 Jahren war an dieser Stelle noch alles gut. Doch dann übergab man Chris Bellman von Bernie Grundman Mastering diverse Originalbänder, um 16 Titel (plus zwei für die Bonussingle) für „Greatest Hits“ zu remastern. Das gelang so atemberaubend, daß danach im Neil-Young-Kosmos nichts mehr so war wie zuvor. „After The Gold Rush“, „Only Love Can Break Your Heart“ und „Southern Man“ sind auf dem Doppelalbum enthalten, und es spielt keine Rolle, ob man die Ausgabe von Classic Records (48935-1, 200 Gramm) oder die „normale“ Reprise-Version (521636-1, 180 Gramm) nimmt. Beide verwenden das identische Mastering. Während die Bonussingle bei letzterer aus schwarzem Vinyl besteht, verwirrte Classic Records die Sammler mit drei verschiedenen Farben (rot, weiß und blau). Das riecht nach Geldschneiderei? Finde ich auch. Aber wie gesagt, klanglich ist diese Zusammenstellung hervorragend. Der Schritt zurück zum Original fällt für den Hörer bei „Gold Rush“ jedoch längst nicht so dramatisch aus, wie zum Beispiel bei „Harvest“.

 

Die nächste Ausgabe im Regal kommt aus Deutschland. Sie erschien in der Twen-Reihe (RS 6383-D) und ist vor allem wegen des ungewöhnlichen Covers interessant. Fast alle weltweiten Editionen verwendeten für die Front ein Schwarz-Weiß-Foto, das in New Yorks Greenwich Village geschossen wurde. Zur Überraschung des Fotografen Joel Bernstein entschied sich Young ausgerechnet für den Schnappschuß, bei dem eine alte Frau durchs Bild läuft. Bei Twen bevorzugte man ein farbiges Portrait. Auch die Coverrückseite ist komplett anders, nur das Bild im Inneren des Klappcovers behielt man bei. In letzter Zeit taucht immer mal wieder eine Picture Disc auf, die sich des Twen-Motivs bedient. Dabei handelt es sich nicht um eine offizielle Veröffentlichung. Dementsprechend dürftig ist auch der Sound. Die echte Twen-Scheibe hingegen klingt ausgesprochen gut, lediglich mit ein paar Defiziten in der Dynamik. Meine dritte, eine deutsche Pressung aus den 80er Jahren (Reprise 44 088, mit Barcode auf der Rückseite), hat gelegentlich noch zusätzlich mit Übersteuerungseffekten zu kämpfen. Auch hat die Übersichtlichkeit der Aufnahmen spürbar nachgelassen.

 

2009 trat Chris Bellman erneut in Aktion und remasterte für die „Neil Young Archives“-Reihe die ersten vier Solo-Alben. Gepreßt wurde bei Pallas in Diepholz, die sehr stabilen Cover und originalgetreuen Beilagen stammen aus den USA. Der Einfachheit halber führe ich die Platte (Reprise 517936-1) als US-Produkt. Es gibt sie, die Marketingabteilung läßt grüßen, sowohl in 140- als auch 180-Gramm-Auflage. Der Unterschied liegt neben dem Preis darin, daß die schwereren Exemplare über eine gefütterte Innenhülle verfügen, die anderen nicht. Mit einer Investition von ein paar Cent kann und sollte man das schnell korrigieren, wenn man, wie ich, „nur“ die 140er besitzt. Denn diese Platte hat höchste Sorgfalt verdient! Der Gesang (auch der im Background) wurde weiter in den Vordergrund gestellt, der Baß reicht tiefer nach unten, einige kleine Details überraschen. Alles in allem eine hervorragende Arbeit, auch wenn man das nach „Greatest Hits“ erwarten durfte. Sie wollen „After The Gold Rush“ im bestmöglichen, knisterfreien Sound? Dann sind Sie hier richtig. Steht Ihnen der Sinn jedoch eher nach einer nostalgischen Zeitreise, kommen Sie um ein Original nicht herum. Das verfügt über eine Aura, die nur schwer zu beschreiben und wohl auch nicht reproduzierbar ist. Und irgendwie ist das ein beruhigender Gedanke.

 

Musik: 9,0

Klang: 8,5 (USA, 1970)

Klang: 8,0 (Deutschland, 1970)

Klang: 7,0 (Deutschland, 1980er)

Klang: 9,0 (USA, 2009)

 

Ronald Born, Januar 2014