Sarah McLachlan – Solace (1991)


Viele der hier besprochenen Platten und noch viele mehr in meinen Regalen führten schon ein langes und ereignisreiches Leben, bevor sie überhaupt in mein Blickfeld gerieten. Das liegt zum einen an ihrem bzw. meinem Alter, zum anderen aber auch an den politischen Verhältnissen, in denen ich aufgewachsen bin. Schon allein um die Existenz einer bestimmten Platte zu wissen, war man auf gute Freunde und aufgeschnappte Weisheiten angewiesen. Diese dann endlich auch in den Händen zu halten, war wiederum eine Frage von Beziehungen und nicht zuletzt ausreichend Geld. Das änderte sich natürlich grundlegend ab 1990. Plötzlich konnte man nicht nur nach Paris fahren oder Mallorca fliegen, sondern eben auch am Erscheinungstag eine neue LP oder CD erwerben. Nur das mit dem Geld hatte sich nicht grundlegend geändert. Neil Youngs „Freedom“ kaufte ich mir gleich vom „Begrüßungsgeld“, Dylans „Under The Red Sky“ im Herbst 1990 in einem Rundfunkladen, dessen Verkäufer noch ein Jahr zuvor mit herablassender Arroganz entschieden hatte, wer würdig genug war, irgendeine Lizenz-LP von Amiga mit nach Hause zu nehmen. Jetzt griff man sich einfach, was man brauchte, bezahlte und ging. Natürlich schloß man zuerst die Lücken in der Sammlung. Durch die vielfältigen neuen Informationsmöglichkeiten wurden diese jedoch erst einmal größer, anstatt kleiner. Und fast ausschließlich ging es um Künstler, die man kannte, von denen man bereits die eine oder andere Scheibe besaß. Neuland in Form von R.E.M. oder Marc Cohn wurde einem per Radio oder Musikvideo eröffnet. Ich besaß bis zum Frühjahr 1992 keinen einzigen Tonträger, den ich ganz allein „entdeckt“ hatte.


In der Fachpresse (vermutlich ME/Sounds) war Tracy Chapmans drittes Album angekündigt worden. Ich fuhr also in die nächstgelegene Kleinstadt mit einem CD-Laden. Diese Geschäfte waren ja wie Pilze aus dem Boden geschossen. Nur wenig später wurden in eben jenem Laden Bücher verkauft, kurz danach versuchte man es noch mit Schuhen, dann war ganz Schluß. Große Einkaufszentren hatten die Macht übernommen, während das Internet noch interessiert aus der Ferne zusah. Aber zurück zu „Matters Of The Heart“. Die kaufte ich, ohne reinzuhören, da mich Tracy Chapmans Erstling umgehauen, und auch der Nachfolger nicht enttäuscht hatte. Was sollte da schief gehen? Wenn ich aber erst einmal vor gut sortierten Regalen stehe, komme ich so schnell nicht wieder weg. Beim orientierungslosen Blättern fiel mir ein CD-Cover besonders auf: ein Frauenportrait, in sepia gehalten, leicht verschnörkelte Schrift. Der Name der Künstlerin sagte mir rein gar nichts, aber irgendwie war meine Neugier geweckt. Schon nach den ersten Tönen unter Kopfhörer stand fest, daß ich auch diese Scheibe kaufen würde, kaufen mußte! Und trotzdem habe ich sie mir komplett angehört, völlig fasziniert und unfähig, die Stop-Taste zu drücken. Wenn ich heute „Solace“ auflege (inzwischen natürlich Vinyl), sehe ich mich wieder in jenem Laden. Und das Schönste ist, daß ich auch heute noch meine damalige Begeisterung restlos nachvollziehen kann! Wenn Ihnen also der Name Sarah McLachlan nichts sagen sollte, wird es mir eine Freude sein, Ihnen einen wirklich guten Tipp zu geben.


Geboren 1968 in Halifax, Nova Scotia, wuchs Sarah McLachlan als Adoptivkind an Kanadas Atlantikküste auf, bekam früh Gesangs-, Klavier- und Gitarrenunterricht und trat bereits mit 17 Jahren als Frontfrau einer Highschool-Band auf. Während der 18-jährige Bob Dylan, der bestimmt nicht an mangelndem Selbstbewußtsein litt, einst im Jahrbuch seiner Highschool verkündete, er wolle der Band Little Richards beitreten, prophezeite Sarah in dem der ihren gleich, daß sie einmal ein berühmter Rockstar werden würde. Und nach dem ersten Auftritt ihrer Band an einer Universität wurde ihr auch umgehend durch das Indie-Label Nettwerk ein Plattenvertrag angeboten. Dafür hätte sie jedoch nach Vancouver gehen müssen (selbst für Kanadier eine kleine Weltreise). Ihre Eltern verweigerten zunächst die Zustimmung und machten den Schulabschluß sowie ein weiteres Jahr am College zur Bedingung. 1988 war es dann endlich so weit, und Sarah McLachlan unterschrieb, ohne bisher auch nur einen Song geschrieben zu haben. Auf ihrem, noch im selben Jahr erschienenen Debüt „Touch“ finden sich dann aber schon acht eigene Titel. Die Platte sorgte vor allem in Kanada für Aufsehen und weckte auch das Interesse von Arista Records, die Sarah 1989 unter Vertrag nahmen. Für ihr Heimatland blieb der Vertrag mit Nettwerk aber weiterhin bestehen.

Anfang 1991 begannen die Aufnahmen für „Solace“ in Vancouver und New Orleans. Nachdem Sarah auf „Touch“ noch von eher regional agierenden Musikern begleitet wurde, übernahmen mit dem Multiinstrumentalisten Hugh McMillan, Daniel Lanois' Schwester Jocelyne am Bass und vor allem dem Songwriter und Gitarristen, Pianisten und Mandolinenspieler Pierre Marchand nun einige der aufstrebenden Top-Leute Kanadas das Zepter. Marchand produzierte auch gleich die Platte, ein Job, den er bis heute nicht mehr abgeben sollte. Außerdem trat er als Co-Autor von „Into The Fire“ in Erscheinung, das als zweite Single ausgekoppelt wurde (die erste war „The Path Of Thorns“, die dritte „Drawn To The Rhythm“). Das Video zu „Into The Fire“ erregte einiges Aufsehen, da Sarah (vermeintlich) nackt im Nebel zu sehen war. Heute, da Skandalnudeln in ihren Filmchen so selbstverständlich wie unbekleidet auf Abrißbirnen schaukeln, ist das zwar kaum noch nachvollziehbar, aber damals ließ es durchaus noch den Blätterwald rauschen.

In Kanada brachte „Solace“ der Künstlerin mit Chartplatz 21 und Doppel-Platin auch den kommerziellen Durchbruch. Für die USA sollte den dann der Nachfolger „Fumbling Towards Ecstasy“ (1993) besorgen, während der Rest der Welt erst 1997 („Surfacing“) so richtig die Ohren spitzte.


Dabei feierte Sarah schon am 24. März 1992 mit „Into The Fire“ und begleitet von Paul Shaffers phänomenaler Studioband ihr US-TV-Debüt in der prestigeträchtigen „Late Night with David Letterman“! Von all dem nichts ahnend hatte ich nur wenige Wochen später mein erfolgreiches blind date mit „Solace“ in einem eher provisorischen Plattenladen in der tiefsten Provinz. Ich würde mir ja gerne einbilden, daß es mein erlesener Musikgeschmack war, der mich bewog, als einer der Ersten nach 200.000 Kanadiern dieses Album zu kaufen. Aber ich fürchte, daß es bei vielen eher Zeitnot und nicht Ignoranz war, die verhinderte, daß nicht schon „Solace“ die Weltkarriere der Künstlerin einläutete. Was mag uns, die wir uns aus Zeitgründen darauf verlassen müssen, was die schreibende Zunft oder (noch fragwürdiger) Radio- bzw. Fernsehanstalten für empfehlenswert halten, nicht schon alles entgangen sein?

Denn ich bin davon überzeugt, daß jeder, der für diese Art von Musik eine Schwäche hat, keine zwei Anläufe braucht, um zu realisieren, daß hier ein Juwel vor ihm liegt! Nur auflegen muß man die Platte eben erst einmal. Dabei ist die Musik mit Worten recht schwer zu beschreiben. Akustik-Pop? Wobei die Betonung im Vergleich zu den damaligen Werken von Tracy Chapman oder den ersten beiden Alben von Suzanne Vega eher auf „Pop“ als auf „Akustik“ liegt. Dennoch haben akustische Gitarren die Oberhand, gelegentlich flankiert von einer sägenden E-Gitarre, Keyboards, Mandoline oder auch mal ein paar Streichern. Ein wunderbar warmer Bass und prickelnde Percussions bilden das felsenfeste Fundament, auf dem sich der samtene Mezzosopran McLachlans entfalten kann. Die stimmliche Bandbreite ist weit abwechslungsreicher als bei Chapman oder Vega und erinnert nicht selten an eine andere berühmte Kanadierin. Während man die Sängerin einfach nur schützend in die Arme nehmen will, wenn sie zum Beispiel in „Back Door Man“ zerbrechlich und lediglich von Bill Dillons Gitarre begleitet, „ … All of your life you've lived in a world as pure...“ singt, gibt es auch sehr anspruchsvolle Passagen, in denen die klassisch geschulte Sängerin ihren großen Auftritt hat. Aber auch da siegen die Emotionen über die reine Kunstfertigkeit. Wie überhaupt die gesamte Platte weniger geeignet ist, die häusliche Party in Schwung zu bringen, als vielmehr einen unvergesslichen Abend in trauter Zweisamkeit zu untermalen. Sie wissen schon, knick knack.


Die Hälfte der zehn Songtitel besteht übrigens nur aus jeweils einem einzigen Wort, wie zum Beispiel „Lost“, „Shelter“ oder „Mercy“. Und die klingen dann auch so, wobei die luftigen Melodien häufig mit den eher besinnlichen Texten konkurrieren. Sie haben die Platte vorliegen, zählen aber elf Titel? Damit wären wir beim einzigen unerfreulichen Aspekt. Als die LP Ende Juni 1991 in Kanada erschien, waren tatsächlich nur zehn Songs enthalten. Nicht einer zu viel, aber auch nicht einer zu wenig. Eine wirklich runde Sache eben. Ein paar Tage vorher brachte Nettwerk „Island Of Circles“ heraus, ein Donovan-Tribute-Album, auf dem diverse Künstler, von denen Nigel Kennedy und die Posies noch die bekanntesten waren, die Songs des Schotten coverten. Sarah McLachlan war mit „Wear Your Love Like Heaven“ vertreten, einem Liedchen, das 1967 immerhin einen 23. Platz in den US-Single-Charts erreichte. Ob das ein Grund war, weiß ich nicht, jedenfalls kam Arista auf die obskure Idee, der US-Version von „Solace“ diese Aufnahme aufzudrücken. Die Künstlerin wehrte sich dagegen mit Händen und Füßen, gab aber letztendlich nach. Mit Verspätung wurde die Platte dann im Januar 1992 in den USA und kurz darauf auch in Europa veröffentlicht, nun mit einem Kropf am Ende der zweiten Seite. Zwar kann „Wear Your Love Like Heaven“ mit einer funkigen E-Gitarre von Leo Nocentelli (The Meters) punkten, erweist sich aber vom ersten Ton an als Fremdkörper. Der einzige Vorteil ist tatsächlich die Platzierung des Stücks. Man nimmt einfach nach „Mercy“ den Tonarm hoch, und die künstlerische Integrität bleibt gewahrt. In meine musikalische Bewertung fließen dann konsequenterweise auch nur die zehn Songs ein, die Sarah McLachlan geschrieben und ausgewählt hatte.


Klanglich ist schon meine deutsche Ausgabe von 1991 (Arista 211 955, 118 Gramm), die aber eben erst im folgenden Frühjahr erschien, eine kleine Offenbarung. Alles wirkt sehr authentisch, wunderbar differenziert, auch dichte Arrangements bleiben jederzeit nachvollziehbar, die gelungene Illusion eines intimen Konzerts. 2002 nahm sich dann Classic Records der Platte an (RTH 2005). Bernie Grundmans Remastering akzentuierte Bass und Percussion noch ein wenig mehr, brachte mehr Präsenz und Frische. Gut 200 Gramm feinsten Vinyls verhelfen dieser Scheibe zu einem unglaublich souveränen Auftritt. Echte Schnäppchen sind (zumindest im Internet) bei beiden Pressungen nicht mehr zu machen, wobei die Preisspirale vor allem bei der von Classic Records straff nach oben führt. Da macht es wirklich Sinn, einmal ernsthaft über das neueste Produkt von Analogue Productions nachzudenken. Dieses Doppelalbum (mit 45 Umdrehungen, jeweils 200 Gramm) wurde für Anfang Oktober angekündigt. Die Auslieferung verzögerte sich jedoch erheblich, so daß ich hier auf dieser Seite etwas improvisieren mußte, denn das sollte natürlich unbedingt noch mit in die Wertung. Gestern ist es endlich eingetrudelt, und was soll ich sagen? Man hat das Grundman-Remastering von 2002 übernommen, da es ganz offensichtlich besser nicht mehr ging. Beide Platten wurden im eigenen Presswerk in Kansas makellos gefertigt und in ein Klappcover gesteckt. Sehr schön! Bei aller Sympathy für die Spezialisten von Analogue Productions bleibt aber der hohe Verkaufspreis ein Haken, den man erst einmal schlucken muß. Zumindest, wenn man die Pressung von Classic Records schon sein Eigen nennt. Denn die ist keinen Deut schlechter. Und man muß nur einmal aufstehen, um die komplette Platte zu hören, nicht dreimal. Wenn Sie sich also nicht gern unnötig bewegen, ist die Ausgabe von 2002 Ihr Kandidat. Nur ist die eben auch nicht gerade billig, so man sie überhaupt noch findet. Wenn ich Ihnen also hier eine der intelligentesten Pop-Platten der 1990er schmackhaft gemacht haben sollte, müssen wohl am Ende die Verfügbarkeit und Ihr Budget entscheiden.


Musik: 8,5

Klang: 8,5 (Deutschland, 1991)

Klang: 9,5 (USA, 2002)

Klang: 9,5 (USA, 2014)


Ronald Born, November 2014