Witthüser & Westrupp – Bauer Plath (1972)

 

Einer meiner besten Freunde (und seit nunmehr fast 30 Jahren verläßliche Inspiration für die Erweiterung meines musikalischen Horizonts) überraschte mich gegen Ende der 1980er Jahre mit einem Sampler, der „Rapunzel“ hieß und mit „Neue Deutsche Volksmusik“ untertitelt war. Warum und woher er den hatte, weiß ich nicht mehr. Aber schon, daß er ihn besaß, war bemerkenswert, da er mit deutschsprachiger Rockmusik aus den 70ern damals genauso wenig am Hut hatte, wie ich. Allerdings beschränkte sich unsere Kenntnis dieser Spezies auch hauptsächlich auf DDR-Produktionen, die schon aus reinem Opportunismus nicht in die engere Wahl kamen. Und natürlich gab es noch Udo Lindenberg, der aber in seiner eigenen Liga agierte und von kritischer Betrachtung freigestellt war. Wir betraten also mit dieser Zusammenstellung des Pilz-Labels tatsächlich Neuland. Bands wie Hölderlin, Bröselmaschine oder Emtidi kannten wir, wenn überhaupt, lediglich vom Hörensagen. Gut, mein Freund hatte sicherlich viel Geld für die Platte bezahlt, und wenn der Verkäufer nicht aus dem engsten Freundeskreis stammte, war an ein Umtauschrecht sowieso nicht zu denken. Also brachten wir ein Übermaß an Wohlwollen auf, mußten uns aber zumindest insgeheim eingestehen, daß das Gehörte nicht wirklich unsere Baustelle war. Mit einer großen Ausnahme! „Die Schlüsselblume“ überzeugte uns vom ersten bis zum letzten Ton! Witthüser & Westrupp? Nie gehört. Aber dieses Folk-Märchen hatte unsere Neugier geweckt. Aus dem eingehefteten Booklet entnahmen wir, daß die dazugehörige LP „Bauer Plath“ hieß und die Musiker mal auf einem Bauernhof gelebt hatten (ein Foto zeigte zwei haarige Gesellen zusammen mit Bauer Plath auf'm Trecker).

 

Wenn man damals in der DDR über das nötige Geld und vor allem die entsprechenden Beziehungen verfügte, kam man nicht nur unkonventionell an Ersatzteile für den Trabant oder Fliesen fürs Bad ran, sondern eben auch an bestimmte Schallplatten. Und so dauerte es nicht lange, bis mein Kumpel (der weder einen Trabi noch ein Bad besaß und für eine gute Platte auch mal ein paar Tage gehungert hätte) mich wissen ließ, daß „Bauer Plath“ eingetroffen wäre. Wie sich herausstellte, war die Scheibe Teil einer Box, in der auch noch die beiden Vorgängeralben der Herren Witthüser & Westrupp (ab hier aus Platzgründen nur noch W&W) enthalten waren! Und so gestaltete sich mein Wochenendbesuch in der legendären Jenaer Mansardenwohnung zu einem verspäteten Hippie-Festival. Ich habe übrigens bewußt nicht von einem „Wochenendtrip“ gesprochen! Natürlich verstanden wir die vielen kleinen Anspielungen auf „Trips und Träume“, dem ersten Album, natürlich kicherten wir ausgiebig über „Nimm einen Joint, mein Freund“, aber uns fehlte vollkommen die persönliche Erfahrung. Und selbst wenn wir diese hätten nachholen wollen, wir wären an das Zeug einfach nicht rangekommen. Aber bulgarischer Rotwein konnte ebenfalls bewußtseinserweiternd wirken! Bei der Zeile „... und auf dem Schulklo riechts nach Gras“ aus Grönemeyers „Alkohol“ glaubte ich übrigens jahrelang, mich verhört zu haben (was man bei dem ja nie ganz ausschließen kann). Tierfutter und Schultoiletten in einem Satz ergaben für mich einfach keinen Sinn. Selig sind, die reinen Herzens sind!

 

Ich überspielte mir alle drei LPs und hörte sie auch ausgiebig. Irgendwann kaufte ich sie mir dann auf CD. Vor Jahren verborgte ich die Silberlinge, und obwohl ich noch genau weiß, an wen, habe ich sie nie zurückgefordert. W&W und digitale Tonträger, das paßt einfach nicht zusammen.

Nun stelle ich mit zunehmendem Alter fest, daß sich nostalgische Momente häufen. Aber anstatt in Fotoalben, blättere ich dann im Plattenregal. Und so war ich neulich ziemlich gespannt, ob das Auflegen von W&W-Scheiben für Ernüchterung sorgen, oder noch immer eine schwer zu beschreibende Faszination heraufbeschwören würde. „Lieder von Vampiren, Nonnen und Toten“ (irrtümlich nur Bernd Witthüser zugeschrieben) war mir schon immer musikalisch zu schlicht, und der kabarettistische Ansatz wirkt auf mich heute doch etwas bemüht. „Trips und Träume“ (1971) hat da wesentlich mehr Format. Die Arrangements sind abwechslungsreich, all die ungewöhnlichen Instrumente gehen eine organische Verbindung ein. Und die Texte sind zum Teil die reine Poesie. „... der Sommer den Tieren im Maule liegt“ (aus „Laßt uns auf die Reise gehen“) ist eine Formulierung, die bei mir noch immer Bilder von heißen, unbeschwerten Ferientagen hervorzaubert.

 

Der Jesuspilz“ (ebenfalls 1971) basierte dann textlich auf Ideen, die dem Buch „Geheimkult des heiligen Pilzes“ von John Marco Allegro entstammten. Parodie? Neuinterpretation der Schöpfungsgeschichte? Provokation? Wohl von allem ein bißchen. Und auch musikalisch passiert hier allerhand. Die Melodien bleiben recht einfach, immer nachvollziehbar. Zum erstaunlichen Fundus an diversen Gitarren, Banjos und Ukulele gesellen sich verschiedenste Perkussionsinstrumente, allerlei klangerzeugender Schnickschnack, ein Mellotron sowie ein Kinderchor. Tonmeister Dieter Dierks, in dessen Studio in Stommeln anschließend noch legendäre Krautrock-Bands wie Tangerine Dream, Birth Control oder Guru Guru, aber auch Klaus Doldingers Passport und (ähem) die Scorpions Platten aufnehmen sollten, schaffte es, in diesem Wirrwarr den Überblick zu behalten und einen erstaunlichen Klangkosmos zu kreieren. Nur vermag mich die Geschichte vom Brösel nicht ganz bei der Stange zu halten. Doch damals war das ein gewaltiger Erfolg. Man führte die „Musik vom Evangelium“ in fast 100 Kirchen (!) live auf. Auch die Platten verkauften sich gut. Überhaupt waren W&W zwischen 1970 und 1973 in den deutschen Medien (nicht nur den Underground-Postillen) fast ständig präsent (auch ein Erfolg ihres umtriebigen Managers und Produzenten Rolf Ulrich Kaiser). Sie wurden im Radio gespielt, waren im Fernsehen zu bestaunen, und die LPs wurden regelmäßig besprochen. Bereits Anfang September 1970 waren sie auf dem chaotischen wie mythenumrankten Festival auf der Insel Fehmarn aufgetreten. Natürlich waren die Leute in erster Linie wegen Jimi Hendrix dort hin gepilgert. Ahnten sie, daß es sein letzter Auftritt werden würde? Und es steht geschrieben, daß W&W vor Hendrix auftraten. Nach Augenzeugenberichten kann man das aber so nicht stehen lassen. Die beiden spielten am Sonntagvormittag einen derart begeisternden Gig, daß das Publikum Zugabe um Zugabe einforderte, so daß W&W bald an die Grenzen ihres damals noch überschaubaren Repertoires stießen und praktisch von vorn anfingen. Jimi mußte so lange warten. Es sollte also eher heißen: Hendrix spielte NACH dem Duo! Anschließend wurde ihnen dann von der Presse auch der Titel „Könige von Fehmarn“ verliehen.

 

Meine Zeitreise endet beim letzten Studioalbum des Duos. Nachdem der ganze Rummel um die Kirchen-Tour langsam abflaute, packten die Beiden ihre Instrumente und verließen Essen samt Freundeskreis, um in der Abgeschiedenheit eines Hunsrückdörfchens zur Ruhe zu kommen. Von einem Bauern namens Plath mieteten sie ein ungenutztes Haus und lebten erst einmal in den Tag hinein. Es dauerte aber nicht lange, bis sie von der Dorfbevölkerung akzeptiert wurden und an diversen Festen teilnahmen. Auch dem Bauern ging man zur Hand, und Walter Westrupp machte sogar den Motorradführerschein! Das ländlich-rustikale Leben sollte einen deutlichen Niederschlag auf der neuen LP finden. Textlich orientierte man sich an der deutschen Romantik, orientalischen Märchen und Tolkien. Diese offensichtliche Weltfremdheit macht mir W&W so sympathisch. In den alternativen Kreisen, aus denen sie ja stammten, wurde damals die große Agitationskeule herumgereicht, jeder Text, wenn er denn nicht gleich zur Revolution aufrief, mußte zumindest versteckte Anspielungen auf soziale Mißstände aufweisen oder schulmeisterlich Umweltverschmutzung und Monopolkapitalismus anprangern. Aus den Liedern von „Bauer Plath“ kann man alles mögliche heraushören, oder es sein lassen. W&W nahmen sich selbst nicht so furchtbar ernst (ohne sich deshalb gleich zum Kasper zu machen), setzten stattdessen auf mündige Zuhörer. Es blieb immer noch die Zeit für ein kleines Augenzwinkern, etwas, was den Autonomen nicht gerade in die Wiege gelegt worden war. Und auch musikalisch traten sie hier äußerst erfrischend auf. Unterstützt durch Musiker von Wallenstein sowie Tommy Engel und Produzent Dierks ging es ausgesprochen akustisch zu, inklusive gestrichener Gitarren, diverser Glöckchen und eines Nordkambodschanischen Windspiels. Krautrock-Freunde seien also vorgewarnt! Denn obwohl sie ja im direkten Umfeld dieser Bands agierten, fehlte ihnen zum Glück deren teutonische Ernsthaftigkeit beim Musizieren. Wenn eine Geschichte erzählt war, dann war auch das Lied zu Ende. Sinnfreies Aufbläen durch entrückte Soli oder elektronische Mätzchen wurde nicht benötigt. Hier sprudelten mehr als genug Ideen, um zwei Plattenseiten interessant und unterhaltsam zu füllen. Dabei sind Melodien und Akkordfolgen alles andere als kompliziert. Aber gerade deshalb bleiben sie sofort im Ohr, unterstreichen ihren Anspruch, „Volksmusik“ zu sein. Die Sprache ist der Romantik entlehnt, klingt aber nicht halb so gekünstelt, wie das, was uns heute (Golf)fahrende Sänger auf unseligen Mittelaltermärkten unterzujubeln versuchen. Höhepunkt der ersten Seite, dieser Platte und des gesamten Schaffens von W&W ist für mich „Der Rat der Motten“. Eine Fabel, natürlich, aber spannend aufbereitet, textlich wie musikalisch. Nähere Erläuterungen meiner Begeisterung für dieses Stück muß ich Ihnen leider schuldig bleiben. Man muß es einfach hören. Und dann müßte es schon mit dem Teufel zugehen, wenn der Funke, trotz ein paar klanglicher Eigenheiten, nicht überspringt. Wie ich überhaupt sagen muß, daß mir nichts einfällt, was in den letzten 40 Jahren im Bereich der deutschsprachigen Musik irgendwie mit dieser Platte (und auch denen davor) vergleichbar wäre. Die zweite Seite unterstreicht das noch. Da wäre zum einen das eingangs schon erwähnte „Die Schlüsselblume“, ein indisches Märchen, das mit einem Arrangement gesegnet ist, das vom Auftritt einer Folkrock-Band im Taj Mahal zu stammen scheint. Großartig! Und mit dem zehnminütigen „Märchen vom Königssohn“ legen die Männer aus dem Ruhrgebiet gleichwertig nach. Das Fundament dafür bildete Tolkiens „Herr der Ringe“ („unsere damalige Bibel“, wie Walter Westrupp auf seiner sehr lesenswerten Website schreibt). Das Ende ist also nicht gerade trostspendend. Das Stück wurde als „Vermächtnis“ bezeichnet, ein deutlicher Hinweis auf die nahende Auflösung des Duos. Aufgenommen im Sommer 1972, kommt die Platte im Herbst heraus und wird ein großer Erfolg. Doch damit endet auch das beschauliche Landleben. Eine aufreibende Konzerttournee, Pressetermine und der Druck von außen nehmen W&W letztendlich die Lust am gemeinsamen Musizieren. Der von ihnen als lebensnotwendig erachtete Spaß war auf der Strecke geblieben, eine Trennung die logische Konsequenz. Natürlich machten beide auch weiterhin in unterschiedlichsten Projekten und als Solisten (Straßen)Musik, der überraschende Erfolg der fünf gemeinsamen Jahre stellte sich allerdings nie mehr ein. Die Nachfrage nach W&W hielt noch ein Weilchen an, da aber ihre Platten aufgrund rechtlicher Scharmützel nicht wieder aufgelegt wurden, wuchs so langsam Gras darüber. Erst zu Beginn der 1980er Jahre ignorierte Bernhard Mikulski, Gründer und Chef von ZYX Records, die weiterhin ungeklärte Rechtslage, und veröffentlichte auf seinem Label sowohl einzelne LPs, als auch die 3-LP-Box.

 

Allerdings fristen W&W hier bis heute ein Mauerblümchendasein, selbst von den meisten ernsthaft musikinteressierten Leuten schlicht übersehen. Für die Krautrock-Fraktion waren sie einfach zu melodieverliebt, zu wenig „kosmisch“, für die linke Liedermacher-Ecke politisch nicht deutlich genug positioniert, zu versponnen und der Spaß-Guerilla schlicht zu hintersinnig. Sie saßen zwischen allen Stühlen. Und da sitzen sie heute noch. Wären sie Engländer, Schotten oder Waliser gewesen, hätte man sie auf der Insel längst auf einen Schild gehoben und in der Ruhmeshalle direkt neben der Incredible String Band platziert.

Klanglich meinte man wohl, nach drei LPs etwas tiefer in die Trickkiste greifen zu müssen. Vor allem beim Gesang wurde mit ordentlich Echo experimentiert, als ob das bei Bernd Witthüsers wunderbarer Vibratostimme nötig gewesen wäre! Insgesamt tendiert der Sound leicht zum Übersteuern, steht praktisch schon auf der Kippe und rudert mächtig mit den Armen. Die Vorgängeralben, vor allem „Der Jesuspilz“, klingen weit natürlicher.

Das gilt sowohl für die Originalausgabe im Klappcover (Pilz 20 29115-4) als auch das Exemplar aus der ZYX-Box (Zyx Rec 20.007). Ansonsten nehmen sich beide Pressungen, bis auf einen etwas präziseren Baß und mehr Raum bei der ersten, nicht viel. Wie schon erwähnt, gab es bei ZYX die LPs auch einzeln. Cover und Labels hielten sich streng an die Vorlagen aus den 1970ern und sind nur durch den „pop import“-Aufdruck auf den Hüllen und den LC-Code auf den Labels von diesen zu unterscheiden. Auch wenn die Box ohne irgendwelche Beilagen und mit lediglich weißen Innenhüllen erschien, ist sie eine Überlegung wert, da sie eben alle drei relevanten Alben von W&W präsentiert und heute wirklich günstig zu finden ist. 2008 legte ZYX „Bauer Plath“ dann nochmals auf (OHR 70035-1). Kein Klappcover, schlichte Innenhülle und ein Klang, der Dynamik vorgaukelt, aber sehr undifferenziert bleibt. Ich meine mich zu erinnern, daß so ähnlich meine CD geklungen hat. Wer auf Neuware steht, kommt hier allerdings sehr preiswert an einen Klassiker.

Denn mit einem solchen haben wir es zweifellos zu tun. Es dürfte schwerfallen, eine deutschsprachige Platte zu finden, die so phantasievoll und mit kindlichem Spieltrieb scheinbar unangestrengt zu unterhalten weiß! Märchenhaft eben. Wer sich für so etwas noch nicht zu alt fühlt, gehört zu denen, deren Neugier ich hiermit einfach wecken wollte.

 

Musik: 7,5

Klang: 7,5 (Deutschland, 1972)

Klang: 7,5 (Deutschland, Anfang der 1980er)

Klang: 6,5 (Deutschland, 2008)

 

Ronald Born, April 2014