Traveling Wilburys – Traveling Wilburys (1988)


Beinahe jede gute Geschichte aus den Annalen der Rockmusik existiert in mehreren Versionen, je nachdem, wer von den Beteiligten sie gerade erzählt. Und mit jedem Unbeteiligten kommen noch Details hinzu oder werden weggelassen. Spätestens, wenn dann die Jungs aus der Marketingabteilung beschönigend eingreifen, wird das Chaos perfekt.

Vor mir liegt nun die Aufgabe, aus den unterschiedlichsten Quellen eine nachvollziehbare und glaubwürdige Fassung zu kreieren. Als ich „Handle With Care“ im Herbst 1988 zum ersten Mal im alten Radio auf unserer Studentenbude hörte, erkannte ich keinen einzigen der Musiker. Verlassen Sie sich also bitte nicht bedingungslos auf meine Kompetenz.


Im Frühjahr 1986 hatte Jeff Lynne mit „Balance Of Power“ offenbart, daß seinem Electric Light Orchestra auch der letzte Rest an Kreativität abhanden gekommen war. Für die kommenden 15 Jahre sollte es das letzte ELO-Album bleiben. Doch als Produzent war Lynne gefragter denn je. Zu seiner bevorzugten Klientel gehörten damals Stars mit einem Knick in der Popularitätskurve. So versuchte er, betagten Helden wie Duane Eddy, Brian Wilson oder etwas später auch Del Shannon, mit fetten Produktionen neue Aufmerksamkeit zu verschaffen. Er war praktisch der Rick Rubin der späten 80er, frühen 90er Jahre. Im November 1987 hatten seine ausgefuchsten Produktionskniffe George Harrison mit „Cloud Nine“ die erfolgreichste LP seit 15 Jahren beschert. Im folgenden Frühjahr arbeitete Lynne dann an Roy Orbisons Comeback-Album „Mystery Girl“.

Cloud Nine“ hatte bereits zwei erfolgreiche Singles abgeworfen, als die Plattenfirma entschied, „This Is Love“ ebenfalls noch auszukoppeln. Für Europa war eine 12“-Maxi geplant. Um die Käufer auch noch von dieser Investition zu überzeugen, benötigte man dringend einen zweiten, möglichst bislang unveröffentlichten Song für die B-Seite (neben „Breath Away From Heaven“). Das erzählte Harrison Lynne bei einem gemeinsamen Mittagessen in Los Angeles und fragte auch gleich, ob der ihm ein geeignetes Studio empfehlen könne. Lynne wußte, daß Bob Dylan nach dem Verkauf der Rundown Studios in Santa Monica im Jahr 1982 große Teile des Equipments in die Garage seines Hauses in Malibu hatte bringen lassen, um sich dort einen Aufnahmeraum einzurichten. Man rief ihn also an, und er sagte: „Kommt vorbei.“. Auf dem Weg hielt man kurz bei Tom Petty, dem Harrison eine Gitarre geliehen hatte, die er nun gern verwenden wollte. Als Petty erfuhr, wohin die Reise gehen sollte, lud er sich gleich noch selbst ein. Das war längst nicht so dreist, wie es jetzt klingt, sondern eher ein natürlicher Vorgang. Schließlich hatten Petty und seine Heartbreakers in den vergangenen zwei Jahren Dylan bei 90 Konzerten begleitet. Bei einem (Wembley, 17.10.87) stand sogar George Harrison als Gast mit auf der Bühne. Bis zu diesem Punkt herrscht Einigkeit in der Geschichtsschreibung. Zur Initiation Roy Orbisons gibt es hingegen mindestens drei Versionen. Entweder war er schon bei erwähntem Essen dabei, wurde auf dem Weg nach Malibu praktisch am Straßenrand aufgelesen, oder aber Dylan schlug erst in seinem Studio vor, auch ihn in die Runde aufzunehmen. Wie auch immer, am Nachmittag des 3. April waren alle Hauptpersonen versammelt, um sich näher mit einem Song-Fragment Harrisons zu befassen, das man später „Handle With Care“ nannte. Der Text war noch nicht fertig, was Dylan und Petty prompt erledigten, so daß man ein Demo einspielen konnte.

Mit diesem betrat Harrison wenige Tage später das Büro des Chefs von Warner Brothers, Mo Ostin. Lenny Waronker saß im Nebenzimmer und hörte ebenfalls zu. Beide waren sich einig in ihrer Begeisterung und darin, daß man diese Nummer unmöglich auf einer B-Seite verstecken dürfe (mangels Alternativen entschied man sich, für die Maxi „All Those Years Ago“ von 1981 als Ersatz zu verwenden). Die beiden Plattenbosse spürten instinktiv, daß hier etwas Außergewöhnliches in der Luft lag. Als Mo Ostin, der immer ein besonderes Vertrauensverhältnis zu „seinen“ Künstlern pflegte, George fragte, ob da nicht vielleicht ein ganzes Album möglich wäre, wußte er, daß er mit der Idee eines Bandprojektes bei diesem offene Türen einrannte. Etwa ein Jahr zuvor waren der Ex-Beatle, Lynne und Petty zu Gast in seinem Haus gewesen, als Petty einen noch unveröffentlichten Song („Free Falling“) zum Besten gegeben hatte, spontan unterstützt von seinen beiden Kumpels. Wenn jemand diesen Faden wieder aufnehmen und weiterspinnen könnte, dann genau dieser allseits beliebte und geschätzte Mann, der schon das „Concert for Bangla Desh“ auf die Reihe gebracht hatte.


Und Harrison schaffte es tatsächlich, obwohl die Zeit sehr begrenzt war. Für den 7. Juni war der Beginn der nächsten Dylan-Tournee terminiert. Auch wenn diese damals noch „Interstate 88“ hieß, wissen wir heute, daß jener 7. Juni in Concord, Kalifornien den Auftakt dessen markieren würde, was man inzwischen The Never Ending Tour nennt. Da Dylan mit einer völlig neuen Band an den Start gehen wollte, benötigte er etwa vier Wochen Vorlauf für die Proben, womit der zeitliche Rahmen für die Wilburys abgesteckt war. Beflügelt von der Unbekümmertheit der Demoaufnahme und euphorisiert vom dabei empfundenen Spaß veranschlagte man zehn Tage für das Schreiben und Aufnehmen der benötigten Songs. Das schien ausgesprochen optimistisch, aber wer, wenn nicht diese fünf Profis, sollte dazu in der Lage sein?

Man entschied sich für Dave Stewarts Studio in dessen Haus in Los Angeles. Der Eurythmics-Gitarrist hatte schon 1985 bei zwei von Dylans Videoclips Regie geführt und auch einen bescheidenen Beitrag zum mehr als bescheidenen „Knocked Out Loaded“ geleistet.

In Stewarts Anwesen herrschte von Anfang an eine denkbar entspannte Atmosphäre. Harrison hatte wahllos Zeitschriften verteilt, aus denen sich seine Gefährten Inspiration holen sollten. Und bald begannen sie, einzelne Textzeilen oder Melodiefragmente in die Runde zu werfen, die von den anderen aufgeschnappt und ergänzt wurden. Keiner war mit irgendwelchen fast vergessenen und vergilbten Manuskripten gekommen, um vielleicht ein paar alte, unfertige Songs doch noch an den Mann zu bringen. Gemeinsam oder in kleinen Gruppen, in der Küche oder dem großen Garten sitzend, kehrten plötzlich Spontanität und Kreativität auch zu jenen zurück, denen sie schon vor längerer Zeit abhanden gekommen waren. Jeff Lynne hatte für das letzte ELO-Album kein einziges Stück geschrieben, das an die Klasse früherer Nummern heranreichte. Roy Orbison dürfte überhaupt nicht gewußt haben, wo er eigentlich stand, so weit lagen seine letzten Erfolge zurück. Und Bob Dylan befand sich eindeutig in einer tiefen künstlerischen Krise. Auch das gerade fertiggestellte „Down In The Groove“, das eine Woche vor Tourneebeginn herauskommen sollte, konnte darüber nicht hinwegtäuschen. Doch plötzlich schien die Muse großzügig Küsse zu verteilen.


Wann der Bandname ins Spiel kam, und ob man sich anfangs überhaupt Gedanken darüber machte, ist unklar. Schon im Februar 1988, also zu einem Zeitpunkt, als die Idee zu einem solchen Projekt noch gar nicht geboren war, äußerte George Harrison, vom Interviewer Bob Coburn nach Plänen für die Zukunft befragt, daß er gern eine Platte mit Freunden aufnehmen würde und die neue Band Traveling Wilburys heißen sollte, in Anspielung auf ein, während der Sessions zu „Cloud Nine“ entstandenes Wortspiel, das Fehler bei den Aufnahmen bezeichnete. Als es dann tatsächlich ernst wurde, hatte Dylan ursprünglich „Roy And The Boys“ vorgeschlagen, willigte aber sofort in den neuen Namen ein. Keiner der versammelten Stars beanspruchte eine Führungsrolle. Um das auch nach außen hin zu demonstrieren, gab man sich als Halbbrüder und Söhne eines gewissen Charles Truscott Wilbury, Sr. aus. In den liner notes auf der Innenhülle des Albums wird eine witzige wie abenteuerliche Erklärung zum Namen serviert. Autor ist (unter Pseudonym) Monty Pythons Michael Palin. Für das zweite Album übernahm diese ehrenvolle Aufgabe dann sein Kollege Eric Idle. Beide waren mit Harrison befreundet, dessen Firma HandMade Films unter anderem „Das Leben des Brian“ und „Time Bandits“ finanziert hatte.


Auch bei den Autorenangaben zeigte man brüderliche Verbundenheit: „All Songs Written By Traveling Wilburys“. Dabei ist bei einigen die deutliche Handschrift von entweder Otis (Lynne), Charlie T. Jr. (Petty), Nelson (Harrison), Lefty (Orbison) oder Lucky (Dylan) nicht zu überhören. Grob könnte man sagen, daß derjenige, der den Leadgesang übernahm, auch den Löwenanteil zum jeweiligen Song beigesteuert hatte. Im Songbook zur LP und später auch in der „The Traveling Wilburys Collection“ wird es durch die unterschiedlichen Verlagsangaben ganz konkret. Die Rechte für „Handle With Care“, „Heading For The Light“ und „End Of The Line“ liegen bei Harrisons „Umlaut Corporation“, die für „Dirty World“, „Congratulations“ und „Tweeter And The Monkey Man“ bei Dylans „Special Rider Music“, während „Last Night“ und „Margarita“ von Tom Pettys Verlag „Gone Gator Music“ und „Rattled“ sowie „Not Alone Anymore“ von „Shard End Music“ verlegt wurden.

Für erste Demos wurde meist ein Drumcomputer verwendet, für den „Feinschliff“ die bewährten Jim Keltner (Drums), Ray Cooper (Percussion) und Jim Horn (Saxophon), die auch schon auf „Cloud Nine“ mitwirkten, hinzugezogen. Auf „Handle With Care“ trommelte auch Ian Wallace ein wenig mit.


Nachdem die Aufnahmen im Kasten waren, fügten Lynne und Harrison, die auch als Produzenten genannt werden, noch einige Overdubs hinzu. Ein paar der ursprünglichen Versionen und Alternativfassungen sind auf diversen Bootlegs enthalten. Stellvertretend sei hier die CD „Beyond The Tracks“ genannt, jedoch nicht, ohne auf den zweifelhaften Charakter solcher Produkte hinzuweisen! Im vorliegenden Fall lassen sie aber immerhin einen Vorher-Nachher-Vergleich zu und beseitigen damit eventuelle Bedenken, bei der Nachbearbeitung könnten womöglich Charme und Authentizität Federn gelassen haben. Im Gegenteil. Der Spaß, den die Beteiligten allesamt hatten, klingt eindrucksvoller denn je aus jeder einzelnen Note. Daß die fünf Herren gute Songs schreiben konnten, mußten sie nun bestimmt niemandem mehr beweisen. Daß sie aber auch ihre Egos vor der Tür lassen und in einer gleichberechtigten Männerrunde einfach nur mitreißende und extrem eingängige Musik produzieren konnten, dürfte einige von ihnen wohl selbst überrascht haben.

Fast ausnahmslos alle Songs versprühen eine kindliche Unschuld und ungetrübten Spaß, wirken tatsächlich wie soeben aus dem Ärmel geschüttelt. Dabei sind sie professionell ausarrangiert, mit spielerischen Läufen, erinnerungswürdigen Hooklines und beseeltem Satzgesang. Nur klingt das eben nicht nach harter Studioarbeit sondern locker und völlig selbstverständlich. Und es ist nahezu unmöglich, ein Stück hervorzuheben. Außer, man ist Dylan-Fan. „Tweeter And The Monkey Man“ war sein bester Song seit Jahren und ließ zarte Hoffnungen sprießen, die im folgenden Jahr auf „Oh Mercy“ zur Blüte kommen sollten. Diese Outlaw-Ballade über Liebe und Tod hatte einiges von „Lily, Rosemary And The Jack Of Hearts“, und auch Townes Van Zandts „Pancho And Lefty“ dürfte Pate gestanden haben. Dabei saß Dylan hier eindeutig der Schalk im Nacken. Nicht nur, daß sich Tweeter in der zweiten Strophe als Frau entpuppt, es tauchen in der Story auch gut verpackt gleich vier Songtitel Bruce Springsteens auf. Zählen Sie ruhig mit: „Stolen Car“, „Mansion On The Hill“, „Thunder Road“ und „State Trooper“. Hinzu kommt noch „Jersey Girl“, das zwar von Tom Waits stammt, aber live längst Bruce gehört. Danach hält dann auch niemand mehr für Zufall, daß die Geschichte ausgerechnet in New Jersey spielt.


Sternstunde“ oder „Magie des Augenblicks“ sind Floskeln, die schon für viele Rezensionen herhalten mußten, aber nur selten so perfekt gepasst haben, wie hier. Daß sich eine solch „glückliche Fügung“ nicht beliebig wiederholen ließ, zeigte der 1990 eingespielte Nachfolger „Traveling Wilburys Volume III“ nur allzu deutlich. Nicht schlecht, aber ohne das Aufregende, dieses ewig in Erinnerung Bleibende, das einem nur das erste Mal bescheren kann.


Untrennbarer Bestandteil des „Gesamtkunstwerkes“ Traveling Wilburys ist natürlich der von Jeff Lynne kreierte Sound, der seine enge Verwandtschaft zu ELO, mit all den gewohnten Beatles- und Beach Boys-Verweisen, weder verleugnen kann noch will. Es geht nur etwas weniger pompös zur Sache. Für Streicher war weder Platz noch Zeit. Noch heute gibt es Leute, die nicht nachvollziehen können, wie ausgerechnet die Schöpfer von „Here Comes The Sun“ oder „Like A Rolling Stone“ mit einem Mann gemeinsame Sache machen konnten, der noch wenige Jahre zuvor „Xanadu“ mit Olivia Newton-John in die Charts und Diskotheken dieser Welt gebracht hatte. Mein Gott, das ist sein Job! Aus meiner Sicht war Jeff Lynne genau der richtige Mann zur richtigen Zeit, um neben der neu erwachten Leidenschaft auch für kommerziellen Erfolg zu sorgen. Als das Album im Oktober 1988 bei Warner Brothers erschien, entwickelte es sich zum Dauerbrenner in den amerikanischen Charts, mit Platz 3 als bester Notierung. In vielen Ländern schaffte es mühelos die Top-Ten, in England immerhin noch Rang 16. Einen Grammy gab es obendrauf. Und das alles passierte, ohne daß man im Vorfeld mit den klangvollen Namen der Mitglieder hausieren gegangen wäre. Eine Tournee, um die Verkäufe anzukurbeln, gab es auch nicht, da der Terminkalender der Musiker bereits randvoll war. Bob Dylan ging wie geplant auf seine eigene Tour und spielte im folgenden Sommer zwei Mal „Congratulations“ auch live, Lynne und Roy Orbison bastelten weiter an „Mystery Girl“, nun unterstützt von Tom Petty und Jim Keltner, während Petty seinerseits sein Solodebüt „Full Moon Fever“ plante, auf dem dann neben Lynne, Orbison und Keltner auch noch George Harrison zu hören sein sollte. Getrübt wird diese einzigartige Kollaboration nur durch den plötzlichen Tod Roy Orbisons am 6. Dezember 1988. Den großen Erfolg von „Traveling Wilburys“ erlebte er lediglich noch im Ansatz, den seiner neuen LP gar nicht mehr. Während er im Video zu „Handle With Care“ noch selbst mitwirkt, sind in dem zu „End Of The Line“ nur noch seine Gitarre (im Schaukelstuhl) und ein gerahmtes Foto zu sehen.


Mit weniger guten Pressungen von ELO-Platten hat man ein echtes Problem. All die Details und von geschickter Hand aufgetürmten Tonspuren verschmieren zu einem einzigen Brei. Zwar bleibt der Bombast, die Transparenz geht jedoch restlos flöten. Da hätte sich Jeff Lynne die aufreibende Arbeit beim Abmischen auch sparen können. Wie sieht es nun bei der wesentlich schlanker produzierten „Traveling Wilburys“ aus? Zuerst geht eine deutsche Pressung (Wilbury Records 925 796-1) ins Rennen. Seit Ende der 1970er Jahre belieferte das Presswerk in Alsdorf die WEA-Filialen in halb Europa mit Vinyl, später dann auch CDs. Daher kommt es, daß die Alsdorfer Platte nur mit einer anderen Katalognummer auch in England auf den Markt kam. Einigen Ausgaben legte man dort jedoch ein Set mit sechs Stickern bei und wies mit einem roten Aufkleber auf dem Cover darauf hin. Das gleiche Set findet man übrigens auch in der limitierten englischen „End Of The Line“-Maxi.

Die Angaben zu den Songs beider Seiten stehen auf dem Label der B-Seite, während das der A-Seite ein Bild der Band zeigt. Das B-Seiten-Label gibt es mit und ohne Foto im Hintergrund. Die Scheibe klingt sehr offen, mit sehr sauberen Höhen, satten Mitten und einem mir etwas zu trockenen Bass. Von Brei keine Spur, ebensowenig von Laufgeräuschen.

Der erste Exot kommt aus Südafrika (Warner Bros. WBC 1652). Das originelle Labeldesign blieb auf der Strecke und mit ihm ein bißchen Dynamik. Noch exotischer und interessanter wird es mit dem nächsten Exemplar. Konnte schon zu Lebzeiten der UdSSR kaum jemand wirklich nachprüfen, ob die vom staatlichen Label Melodija entrichteten Lizenzgebühren in irgendeinem Zusammenhang mit der tatsächlichen Anzahl der gepressten Platten standen (taten sie natürlich nicht), brach mit dem Ende des Riesenreiches auch auf dem Schallplattenmarkt eine ungezügelte Goldgräberstimmung aus. Private Firmen schossen wie wild aus dem Boden, Lizenzen wurden wahrscheinlich gar keine mehr entrichtet. Die Produkte kann man also nur mit viel Wohlwollen als wenigstens halblegal bezeichnen. Einer der geschäftstüchtigsten „Jungunternehmer“ war Andrei Tropillo aus St. Petersburg, vormals Produzent bei Melodija. Außerdem war er der mit dem besten Musikgeschmack. Auf seinem Label AnTrop erschienen alsbald ausgesuchte Platten der Beatles, Rolling Stones, von Pink Floyd, Led Zeppelin, den Stooges und Bob Dylan. Mit Nikolai Kibalchich leistete sich Tropillo sogar einen eigenen Designer, was dazu führte, daß man die Cover nicht einfach übernahm, sondern häufig recht originell modifizierte und „russifizierte“ (Finde die Unterschiede!). Von „Traveling Wilburys“ (AnTrop P91 00223, 1991) sind drei Labelvarianten bekannt. Wer von Ihnen hat Vorurteile gegenüber allen russischen Produkten, die nichts mit Alkohol zu tun haben? Dann hören Sie sich mal diese Platte an! Da gibt es wirklich nichts zu meckern! Warum jedoch sämtliche Stücke der zweiten Seite zu Beginn erst „hochgefahren“ werden, ist durch nichts sinnvoll zu erklären. Allerdings bekommt die Platte dadurch glatt so etwas wie einen eigenen Charakter. Den hat übrigens auch Dylans russische Version von „Slow Train Coming“ (AnTrop P91 00007). Die klingt ebenfalls viel besser als erwartet und besitzt ein noch eigenständigeres Cover. Wenn Sie allerdings Fan von „Man Gave Names To All The Animals“ sind, muß ich abraten. Das Stück fehlt da nämlich. Ersatzlos!

Zurück zu den Wilburys. Obwohl sich das erste Album ausnehmend gut verkaufte und in allen möglichen Ländern erschien, gab es mit Ausnahme der russischen Piratenware und einer regelkonformen Supraphon-Lizenz (1990) keine Vinylnachauflagen. Das CD-Zeitalter befand sich auf seinem Höhepunkt, und erste Brenner sollten bald an die Tür klopfen. Erst 2007 entschied sich Rhino, „The Traveling Wilburys Collection“ zu veröffentlichen. Die gab es in drei verschiedenen Darreichungsformen, eine davon eine wunderschöne Box mit den beiden Original-LPs sowie einer dritten Platte mit einigen Raritäten. Die Alben wurden von Steve Hall digital remastert, die Lackfolie für die Vinyl-Edition von Kevin Gray bei RTI geschnitten. Im Vergleich zum Original fehlt mir etwas dessen Offenheit und Frische. Die Rhino-Platte klingt „erwachsener“, kontrollierter, was nun ausgerechnet das erste Album der Wilburys nicht wirklich braucht. Aber das ist natürlich Geschmackssache. Als Sammelobjekt bleibt die Box ein unverzichtbares Schmuckstück. Wer nur hören will und eh schon zu viele Postkarten und Poster besitzt, ist mit der Alsdorf-Pressung bestens bedient und spart auch noch jede Menge Geld. Dafür kann man dann ja die eine oder andere der hervorragend klingenden Maxis mit „Extended Versions“ erwerben.


Musik: 9,0

Klang: 8,5 (Deutschland, 1988)

Klang: 8,0 (Südafrika, 1988)

Klang: 8,5 (Russland, 1991)

Klang: 8,0 (USA, 2007)


Ronald Born, November 2015