Stephan Eicher – My Place (1989)
Wieder einmal war Alfred Biolek, wie schon bei Monty Python oder Kate Bush, der Wegbereiter für eine Karriere auch in Deutschland. Der Talkmaster und Produzent mit dem feinen Gespür für das Außergewöhnliche hatte in eine seiner TV-Sendungen einen jungen Schweizer eingeladen, der ein herzergreifendes Lied auf Französisch zum Besten gab. Ein hier bereits erwähnter Freund von mir saß vor dem Fernseher, wollte mehr davon und notierte sich sofort den Titel des aktuellen Albums. Als kurz darauf in seiner Heimatstadt ein internationales Chortreffen stattfinden sollte, wurden ihm zwei Oldenburger Musikstudenten zur Unterbringung zugewiesen. Gefragt, was denn als kleines Mitbringsel gewünscht würde, nahm er seinen Zettel zur Hand und nannte an erster Stelle eben jene CD („My Place“) von Stephan Eicher. Auch wenn die Gäste von jenseits der Grenze nicht automatisch den Ruf nach Bananen erwartet hätten, dürfte dieses Ansinnen doch einige Verwunderung ausgelöst haben. Denn auch im Westen war Eicher damals nur einer kleinen Minderheit bekannt, und daß in einem Land, das als am besten bewachtes Museum der Welt durchgehen konnte, CD-Player ihren Dienst verrichteten, konnte man nun ebenfalls nicht erwarten. Hätten sie auch nur geahnt, was dafür auf dem Schwarzmarkt zu entrichten war, sie hätten sich die Reise zu diesem Verrückten vielleicht noch mal überlegt. So aber kam ich wenige Wochen später in den Genuß einer Scheibe, die mich auf Anhieb begeisterte und es nach unglaublichen 25 Jahren immer noch tut.
Stephan Eicher wurde in der Nähe von Bern geboren. Nach einem Kunststudium in Zürich stieg er bei Grauzone, der Band seines Bruders, ein. Eher dem Punk verpflichtet, landete man 1981 im Sog der Neuen Deutschen Welle mit „Eisbär“ einen Zufallstreffer und löste sich ein Jahr später wieder auf. Hatte Eicher bereits 1980 mit Drumcomputern und diversen elektronischen Geräten experimentiert („Stephan Eicher spielt Noise Boys“), begann er 1982 zudem, sein Augenmerk verstärkt auf den französischsprachigen Raum zu richten. Die EP „Souvenir“ brachte dann neben einem deutschen auch zwei Stücke auf Französisch (plus das Instrumental „Paris“). Elektro-Chansons. Sein erstes „richtiges“ Album („Les Chansons Bleues“, 1983) folgte der eingeschlagenen Fährte, war aber kommerzieller produziert, was in der Schweiz für Aufmerksamkeit und Platz 21 in den Charts sorgte. „I Tell This Night“ (1985, Platz 10) und „Silence“ (1987, Platz 3) machten ihn dann in der Heimat endgültig zum Pop-Star. Auch wenn diese Platten im restlichen Europa praktisch unbemerkt blieben und musikalisch mit dem, was ab „My Place“ auf der Tagesordnung stehen sollte, noch wenig zu tun hatten, war die Struktur mit einer Mischung aus deutschen, englischen und französischen Texten, Einflüssen aus Rock, Chanson, Folk und Blues und amerikanischem Songwriting mit einer Schwäche für Bob Dylan und Lou Reed schon ansatzweise erkennbar.
„Maschinensucht überwunden“ schrieb 1989 scheinbar erleichtert die schweizerische SonntagsZeitung. Und tatsächlich überraschte „My Place“ mit ungewohnten Klängen auf das Angenehmste. Fast ausschließlich akustische Instrumente dominierten das Geschehen, und wenn sich Strom nicht vermeiden ließ, floß er nicht mehr in Computer sondern in E-Gitarre und Bass. Für den runderneuerten, geerdeten Sound holte sich Eicher den Produzenten David Allen (vorher mit wenig bodenständigen Jobs für Human League und Depeche Mode) sowie versierte, aber wenig bekannte Sessionmusiker wie den Reggae-Bassisten Yovo M'Boueke und den Gitarristen Steve Bolton (Ex-Atomic Rooster) ins Boot. Lediglich der umtriebige Danny Thompson (Double Bass) hatte schon ordentlich Staub aufgewirbelt. Und es gab jetzt ein Streichquartett!
Die Songs folgten weiterhin dem bekannten Muster. Die in englischer Sprache stammten von Eicher selbst, dem textlich die Schweizer Künstlerin Claudia Schifferle (die heißt wirklich so) ab und an unter die Arme griff. Reine Poesie ist das nicht gerade. Es geht um klassische Themen wie die Liebe, das Verlassenwerden und nagende Selbstzweifel. Große Geschichtenerzähler sind beide nicht. Und wissen Sie was? Es ist egal! Gerade die englischen Texte scheinen nur dazu zu dienen, Eichers melancholische, leicht raue Stimme als Instrument ins rechte Licht zu setzen. Und das gelingt ausnahmslos. „It's the singer, not the song.“ Für den französischen Teil hat sich der Schweizer hier erstmals mit dem Romancier Philippe Djian verbrüdert. Der hatte 1985 mit „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ (ein Jahr später verfilmt und Oscar-nominiert) den internationalen Durchbruch geschafft. 2010 grenzte er in einem Interview seine Arbeiten für Eicher komplett von seinem sonstigen schriftstellerischen Schaffen ab und sagte: „Die Lieder sind keine Poesie.... Es sind kurze Texte, die dafür gedacht sind, gesungen zu werden. Sie brauchen die Vervollständigung durch die Musik.“. Auch wenn dieses Statement (oder Understatement?) genau nach dem klingt, was ich den englischen Lyrics unterstellt habe, fällt einem, der französischen Sprache Unkundigen wie mir, sofort auf, daß weit mehr Wörter im Umlauf sind. Und natürlich klingt das alles auch eleganter. Doch zwangsläufig führt die Sprachbarriere auch hier dazu, sich einfach auf seinen Instinkt, den Gesang und die Musik zu verlassen. Wer zum Beispiel bei „Sois Patiente Avec Moi“ nicht sofort spürt, daß es ums Ganze geht, dem wäre auch mit einer Übersetzung nicht geholfen.
Und auch für das obligatorische „deutsche“ Lied kommt man diesmal ohne einen Dolmetscher (oder zumindest den gedruckten Text) nicht aus. Das Lied vom „Vreneli ab em Guggisberg“ (hier kurz „Guggisberglied“) ist das wohl älteste noch erhaltene Volkslied der Schweiz und wird (vereinfacht ausgedrückt) in Schwyzerdütsch gesungen. Auch auf seinen beiden folgenden Alben „Engelberg“ (1991) und „Carcassonne“ (1993), die für mich die „Große Eicher-Trilogie“ vervollständigen, wird diese alte Sprache mit „Hemmige“ und „La mi los“ gepflegt. Und Traditionspflege scheint tatsächlich Eichers Anliegen zu sein. Der Verdacht auf Folklore-Kitsch oder nationalistische Anbiederei zerfällt beim Hören zu Staub.
Die Musik der Platte stammt, natürlich bis auf das „Guggisberglied“, komplett von Stephan Eicher. Besonders kompliziert sind die Kompositionen nach wie vor nicht, dafür extrem eingängig, Ohrwürmer fast durch die Bank. Es sind die traumhaften Arrangements, die sie so einzigartig machen. Nicht, daß ständig etwas Überraschendes passieren würde, aber wenn, dann immer und ausschließlich, um das jeweilige Stück noch origineller, interessanter, einfach schöner zu machen. Und das alles geschieht mit einer scheinbaren Selbstverständlichkeit, die einen permanent staunen läßt. Wenn zum Beispiel plötzlich eine Trompete, eine Oboe oder ein Akkordeon erklingt, hat man nie das Gefühl, die hätten halt noch irgendwie verwurstet werden müssen, da sie nun schon mal im Studio rumstanden. Im Gegenteil. Hinterher kann man sich gar nicht mehr vorstellen, daß das betreffende Lied überhaupt ohne diese kleinen Einsprengsel existieren könnte. In den 1980ern hatte sich das Saxophon für mich persönlich durch seine nervtötende Omnipräsenz gnadenlos ins Abseits getrötet. Mit einem einzigen Stück („Right Now“) gelingt Eicher hier die Rehabilitation. Sparsamster Einsatz, ausschließlich der jeweils gewünschten Atmosphäre geschuldet, ist das Geheimnis.
Die wunderschönen, klassisch angehauchten Streicherarrangements überließ der Schweizer der Schottin Jackie Norrie, die später auch für die Tindersticks oder The High Llamas zur Violine greifen sollte. Und auch das vorzügliche Streichquartett dient hier nur einem Herrn: dem Song.
„My Place“ ist durch die Summe seiner vielen ungewöhnlichen Ideen, die Meisterschaft seiner Protagonisten und die schwer zu beschreibende Stimmung, die es erzeugt, ein durch und durch außergewöhnliches Album. Daß es im Herbst 1989 wie eine Bombe einschlug, wäre jedoch eine glatte Lüge. Lediglich in der Schweiz sprang ein 4. Platz in den LP-Charts heraus. In Deutschland spielten sich gerade einschneidendere Dinge ab, so daß man erst 1990 begann, die Platte wirklich wahrzunehmen. Der Spiegel (Heft 20/1990) brachte einen sehr wohlwollenden Artikel, während sich Musik Express/Sounds (damals noch mit Chefredakteur Bernd Gockel, der 1994 gemeinsam mit Jörg Gülden den deutschen Rolling Stone erfolgreich wiederbeleben sollte) auf der Stelle in den Schweizer verliebte. In der ME-Spezialausgabe mit dem Jahresrückblick 1990 schaffte es „My Place“ in der Rangliste der 50 besten LPs auf Platz 4 (mit vier von sechs möglichen Sternen von Gastkritiker Campino). Die Laudatio schrieb Manfred Gillig-Degrave. Ich zitiere: „Stephan Eicher balanciert hier scheinbar schwerelos auf dem Hochseil zwischen Rock und Chanson; er steuert zwischen existentialistischer Mitternachts-Tristesse mit französischem Charme und sanfter Rockpoesie einen sicheren Kurs, der vom würzigen Cajun-Flair mit Akkordeon über folkige Fiedelei bis hin zur kammermusikalischen Intensität mit lyrischer Oboe führt.... Aus der Schweiz kommt eben doch nicht nur Käse.“.
Im folgenden Jahr schaffte es „Engelberg“ in der gleichen Postille auch dank fünf Sternen von Gast Rudolf Schenker (!) auf Platz 5, während 1994 nur die lächerlichen zwei Sternchen eines offensichtlich indisponierten Heinz Rudolf Kunze „Carcassonne“ den Titel „Album des Jahres“ kosteten. In den Lesercharts suchte man den Namen Stephan Eicher jedoch vergeblich, was den Stempel „Kritikerliebling“ nicht eben verblassen ließ.
Dabei hatte sich seine Plattenfirma (Mercury als Partner der französischen Barclay) richtig ins Zeug gelegt. Man schickte Eicher zu „Live aus dem Schlachthof“ und sogar zu Wim Thoelke („Der große Preis“). Auch wurden gleich drei Singles ausgekoppelt, die aber allesamt nicht punkten konnten. Den Anfang machte „Sois Patience Avec Moi“ (889 718 7) als Remix sowie mit einer Piano-Version auf der B-Seite. Es folgte die LP-Version als B-Seite von „My Heart On Your Back“ (873 566 7) sowie 1990 „Rien A Voir / I Am A Story Backwards Told“ (877 662 7) mit den deutschen Tourdaten auf der Rückseite des Covers. Ein Kuriosum stellt für mich die deutsche Single mit der Katalognummer 873 620 7 dar. Auf Seite 1 findet sich dort eine um ca. 30 Sekunden gekürzte Fassung von „My Heart On Your Back“, während die zweite Seite … leer bleibt! Die Scheibe ist nicht als Promo ausgewiesen, hat aber ein blaues, anstelle des üblichen silbernen Labels.
Meine Leser aus der Schweiz und Frankreich wird der folgende Hinweis wenig interessieren, da bei ihnen die „Guggisberglied“-Instrumentalversion des amerikanischen Avantgarde-Künstlers Moondog bereits auf verschiedenen Singles zu finden war. In Deutschland hingegen ist diese hörenswerte Bearbeitung nur auf der CD erschienen, mit einer Ausnahme. Der Vinylfreund wird auf der 12“-Maxi von „My Heart On Your Back“ (873 567-1) fündig, die zudem noch ein kleines Dynamik-Wunder ist. Womit wir beim Klang angekommen wären.
Zwar brilliert die deutsche LP (Mercury/Barclay 841 025-1, gepresst in Holland) nicht ganz so, wie die erwähnte Maxi, aber Grund zur Klage bietet sie dennoch nicht: große, sauber aufgeräumte Bühne die auch die angesprochenen kleinen Details der Arrangements hervorragend abbildet. Wenig überraschend klingt die französische Ausgabe (Barclay 841 025-1) so ziemlich identisch, ist aber mit 130 Gramm ein ganzes Stück schwerer. So viel mir bekannt ist, wurde „My Place“ auf Vinyl nicht noch einmal aufgelegt (die CD bekam 1999 ein Remastering spendiert). Ein lohnendes Projekt wäre das für die Reissue-Spezialisten allemal. Und wenn wir gerade dabei sind: „Carcassonne“ gibt es überhaupt noch nicht auf Vinyl!
Mit „My Place“ gelang Stephan Eicher ein versöhnlich stimmender musikalischer Ausklang der 1980er Jahre, den man nicht mehr erwarten durfte. Die beiden Folgealben gaben auch für die 90er ein ähnliches Versprechen ab. Daß es letztendlich nicht eingelöst wurde, war mit Sicherheit nicht seine Schuld.
Musik: 8,5
Klang: 8,5 (Deutschland, 1989)
Klang: 8,5 (Frankreich, 1989)
Ronald Born, Juli 2014