Pink Floyd – Relics (1971)

 

Ich kann mich noch gut an dieses Wochenende vor mehr als 35 Jahren erinnern, als ich mich beim großen Bruder eines Schulfreundes einfand, um mir eine uns bis dahin unbekannte Pink-Floyd-LP anzuhören, die er sich für zwei Tage ausgeliehen hatte. „The Wall“ war vor ein paar Monaten erschienen. Auch die hatte ich in jenem engen Mansardenzimmer schon gehört, genau wie „Meddle“, „The Dark Side Of The Moon“, „Wish You Were Here“ und „Animals“. Mit meinen 15 Jahren hielt ich mich also für einen ausgemachten Floyd-Experten und erwartete uferlose Klanglandschaften, Herztöne, Hubschrauber, Haustiere und singende Fußballfans. Mindestens! Und dann kam „Arnold Layne“. Der Text über einen Damenwäsche klauenden Fetischisten hätte uns sicherlich begeistert auf die Schenkel klopfen lassen, wenn wir ihn denn verstanden hätten. So aber machte sich erste Enttäuschung breit. „Interstellar Overdrive“ schien vorerst die Situation zu retten, bevor wir ab „See Emily Play“ wieder zu zweifeln begannen, es hier tatsächlich mit einer unserer Lieblingsbands zu tun zu haben. Irgendjemandem fielen dann die Datumsangaben zu den einzelnen Songs auf der Coverrückseite auf. Sollte in grauer Vorzeit eine Gruppe gleichen Namens existiert haben? Auf dem Label der zweiten Seite fanden wir jedoch das vertraute „Waters-Wright-Gilmour-Mason“. Doch wer war „Barrett“? Offenbar schien der große Unbekannte eine maßgebliche Rolle gespielt zu haben. Da Google noch weit jenseits jeglicher Vorstellung lag (nicht nur unserer), und vertrauenswürdige Lexika nicht vorhanden waren, standen wir vor einem Rätsel. In den bereits in der Besprechung zu „Mona Bone Jakon“ (Cat Stevens II) „gewürdigten“ Nachschlagewerken des VEB Lied der Zeit fanden Pink Floyd lange gar nicht statt. Erst 1983 findet sich in „Rock“ aus dem gleichen Verlag ein längerer Eintrag, der allerdings den Eindruck erweckt, „Relics“ sei eine ganz normale LP aus dem Jahr 1971 gewesen. Dafür konnte man schon zehn Jahre zuvor in „Beat“ unter „Underground“ lesen: „Im Underground fehlt vor allem die klare und orientierende Verbindung mit der revolutionären Arbeiterklasse.“. Logisch, daß diese Bücher bei uns nicht gerade hoch im Kurs standen. Doch als Amiga 1979 „The Dark Side Of The Moon“ herausbrachte, hätte man im Begleittext von Gottfried Schmiedel durchaus etwas über die Anfangsjahre der Band erfahren können. Nur trugen wir damals die Nasen viel zu hoch, um Lizenzausgaben überhaupt zu registrieren. Amigas sehr eigenwillige Genesis-LP von 1981 schien uns nur darin zu bestätigen, daß einzig Originale geeignet waren, die wahre Botschaft zu verkünden. Dabei hätte es gerade die ostdeutsche „Dark Side“ vermocht, uns von unserem hohen Roß zu stoßen. Hören Sie mal rein (Amiga 8 55 667), es warten ein paar Überraschungen auf Sie!

 

In den folgenden Jahren sank mein Interesse an Pink Floyd, auch bedingt durch sich stark verändernde musikalische Vorlieben, fast auf den Nullpunkt. Und noch heute bin ich der Meinung, daß spätestens nach „Wish You Were Here“ alles gesagt war. Vor einigen Jahren erregten aber dann doch die frühen Singles irgendwie meine Aufmerksamkeit. Zum Glück waren sie bereits viel zu teuer, als daß mich das Sammelfieber hätte packen können. Von ihrer Frische und Verspieltheit war ich jedoch begeistert. Und so rückte „Relics“ mit reichlicher Verspätung erneut in mein Blickfeld. Von den 10 Songs der ersten fünf in England erschienenen 45er, die allesamt nicht auf LPs enthalten waren, ist darauf nämlich immerhin die Hälfte zu finden. Zusammen mit zwei Stücken des Debüts, einem von „A Saucerful Of Secrets“, zweien vom „More“-Soundtrack sowie dem bis dahin gänzlich unveröffentlichten „Biding My Time“ (aufgenommen im Juli 1969) bieten sie einen, wenn auch nicht allumfassenden, so jedoch aufschlußreichen Überblick über die Studiotätigkeit von März 1967 bis zum Sommer 1969. Doch die Geschichte beginnt bereits Anfang der 1950er Jahre.

 

Der achtjährige Roger Waters wurde damals in Cambridge jeden Samstag zum Kunstunterricht für Kinder geschickt. Dort tummelten sich auch die zwei Jahre jüngeren Syd Barrett und David Gilmour, die Roger als den Sohn ihrer Grundschullehrerin kannten.

Ein paar Jahre später spielte Waters im Cricketteam seiner Schule gemeinsam mit Bob Klose und Storm Thorgerson. Der ehemalige Rektor der Cambridgeshire High School for Boys, an der der junge Roger mit voller Wucht auf das überholte englische Bildungssystem prallte (was letztendlich zu „The Wall“ führte), hieß Brinley Newton-John (verheiratet mit der Tochter des deutschen Nobelpreisträgers Max Born). Als er mit seiner Familie 1954 nach Australien auswanderte, war seine Tochter Olivia sechs Jahre alt und dürfte Waters und seinen Freunden kaum aufgefallen sein. Als „Relics“ im Mai 1971 erschien, hatte sie mit der Single „If Not For You“ zum ersten Mal die Top-Ten der britischen Charts geentert, was nur den Auftakt einer höchst erfolgreichen Karriere markierte.

Wen interessiert, wer aus dem erweiterten Kreis der Band ebenfalls seine Wurzeln in Cambridge hatte, wer später in London wann mit wem in wessen Wohnung lebte, wie Pink Floyd nach und nach Konturen annahm und wer mit welchen inspirierenden Substanzen in Berührung kam, dem kann ich nur Barry Miles' Buch „Pink Floyd – Die frühen Jahre“ (deutsch bei Koch International, 2008) empfehlen, das vor lauter Fakten und Anekdoten fast zu platzen droht.

 

Hier die Kurzfassung: Im Sommer 1962 ging Roger Waters nach London, um an der Technischen Hochschule in der Regent Street, wo er ein paar Monate später Richard Wright und Nick Mason kennenlernte, Architektur zu studieren. Bald darauf gründete man dann mit drei weiteren Bekannten die Band Sigma 6, aus der später The Abdabs wurden. Als Waters, Wright und Mason irgendwann allein dastanden, weil die musikalischen Köpfe der Abdabs sich verabschiedet hatten, traf es sich, daß Syd Barrett und Bob Klose ebenfalls in London eingetroffen waren (September 1964). „Syd und ich hatten uns einst geschworen, daß wir eine Band in London gründen würden, sobald er auf die Kunsthochschule ginge … Da ich nun schon Mitglied einer Band war, stieg er dort einfach mit ein.“, berichtete Waters später. Weil Bob Klose der einzige wirklich versierte Gitarrist unter den Jungs war, wechselte Waters an den Bass, den ihm, so die Legende, Richard Wright vor jedem Auftritt erst mal stimmen mußte. Um die musikalischen Fertigkeiten war es also nicht bestens bestellt, aber man verfügte über massenhaft Ideen und einen kaum zu rechtfertigenden Enthusiasmus. Schon in dieser Zeit, als man abwechselnd als The Abdabs und The Tea Set in Erscheinung trat, schrieben Waters und Barrett erste Texte. Eine jener Nummern war Barrets „Let's Roll Another One“, aus der später auf Intervention der Plattenfirma „Candy And A Current Bun“ wurde. Schon über Weihnachten bot sich die Möglichkeit, im Tonstudio eines Freundes kostenlos vier Songs aufzunehmen, wovon gleich drei aus Syds Feder stammten. Und als man im Januar 1965 in einem Club der Air Force in Uxbridge auftreten sollte und feststellen mußte, daß eine weitere Band, die sich ebenfalls The Tea Set nannte, auf dem Programm stand, war guter Rat teuer. So kam es, daß Barrett einfach die Namen seiner beiden Katzen, die er nach den inzwischen hinlänglich bekannten Bluesmusikern Pink Anderson und Floyd Council benannte hatte, zusammenfügte. Anfänglich firmierte man noch unter The Pink Floyd Blues Band, woraus bald The Pink Floyd Sound bzw. The Pink Floyd wurde.

Als Bob Klose durch eine Zwischenprüfung fiel, beendete ein Machtwort seines Vaters abrupt seine musikalische Laufbahn. The Pink Floyd waren jetzt zu viert und musikalisch recht limitiert. Beim Geburtstag von Storm Thorgersons Freundin in Cambridge, auf dem sie auftraten, gab es ein Wiedersehen mit ihrem alten Kumpel David Gilmour, der mit seiner Band Joker's Wild ebenfalls eingeladen worden war. 1966 sollte diese Band eine Single sowie eine einseitig bespielte LP aufnehmen, wobei von beiden nur jeweils 50 Exemplare gepresst wurden. Da sich in den letzten Jahrzehnten so ziemlich alles in Gold verwandelt hat, was je von einem Band-Mitglied Pink Floyds berührt wurde, zählen beide Platten heute unter „Floydianern“ zu den am meisten gesuchten Sammlerstücken.

Von März bis Juni 1966 trat das Quartett regelmäßig im Marquee Club auf, der sonntagnachmittags für ein Happening gemietet wurde, das sich „Spontaneus Underground“ nannte. Dort setzten The Pink Floyd Sound erstmals auch eine zunächst noch schlichte Lichtshow ein und entwickelten sich zur Speerspitze des Londoner Undergound. Den Sommer verbrachten Waters und Wright in Griechenland, Mason in den USA. Nur Syd Barrett war zu Hause geblieben und hörte sich mit dem neuen Manager Peter Jenner wieder und wieder das Debütalbum von Love sowie „Fifth Dimension“ von den Byrds an. Das Resultat dieser psychedelischen Endlosschleife nannte er später „Interstellar Overdrive“.

Bereits im März war die London Free School gegründet worden, um diverse künstlerische Aktivitäten zu bündeln. Ihr Sprachrohr war das Underground-Magazin International Times. Konzerte organisierte man in der All Saints Church Hall in Notting Hill, wo Pink Floyd von September bis November praktisch die Hausband waren. Um die vereinbarten langen Auftritte ohne Wiederholungen absolvieren zu können, griff man zu einem probaten Mittel: ausufernden Improvisationen. Bis heute hat der weltberühmte Notting Hill Carnival, der damals zum ersten Mal stattfand, überlebt. Und natürlich die Musik jener Band, die das wilde Treiben einrahmte.

 

Eine der maßgeblichen Figuren der Londoner Szene jener Zeit war der hier schon häufiger erwähnte Joe Boyd. Als der International Times das Geld ausging, beschlossen der umtriebige Hoppy Hopkins und er, zur Beschaffung dringend benötigter Finanzmittel im Keller eines irischen Ballsaals im West End einen Club zu eröffnen. Das UFO war geboren. Ursprünglich sollten nur zwei Konzerte, eins vor und eins nach Weihnachten, stattfinden. Auf beiden spielten Pink Floyd. Insgesamt traten sie dort dann zehn Mal auf, entweder allein, oder auch gemeinsam mit Fairport Convention, Soft Machine oder Tomorrow (mit dem jungen Steve Howe an der Gitarre). Als der Club im September 1967 aufgrund sich immer höher auftürmender bürokratischer Hürden und wegen nachlassenden Publikumsinteresses seine Pforten schloß, waren Pink Floyd eine Berühmtheit. Journalisten hatten über sie berichtet, John Peel sie zum ersten Mal gehört, Filmteams (Peter Whitehead, Granada TV) ihre Auftritte über London hinaus bekannt gemacht. Und sie hatten zwei Singles und eine LP in die Charts gebracht!

 

Nachdem Joe Boyd seinem ehemaligen Chef Jac Holzman von Elektra Records ein Demo von Pink Floyd vorgespielt, der aber abgewunken hatte, gründete er seine Firma Witchseason Production und machte sich auf die Suche nach einem potenten Partner. Der schien schnell in Polydor gefunden, die sich gerade anschickten, den englischen Markt zu erobern. Und so ging es Anfang 1967 ins Sound Technique Studio, wo unter der Regie von Boyd unter anderem „Arnold Layne“ aufgenommen wurde. Allerdings hatte inzwischen Peter Jenner bei einer Agentur um den späteren Floyd-Manager Steve O'Rourke unterschrieben, so daß Boyd lediglich noch als angestellter Produzent agierte. Die Aufnahmen wollte man nutzen, um die EMI oder Decca für die Band zu interessieren. Der Vertrag mit Polydor blieb in der Schublade, und wenige Tage später zog sich die EMI die Band an Land. Zwar hatte man deutlich weniger Tantiemen geboten als Polydor, aber eben auch 5.000 Pfund Vorschuß, die dringend benötigt wurden, um einen Bandbus zu kaufen. Auch als Produzent war Joe Boyd nun endgültig aus dem Rennen, da die neuen Herren für die erste LP („The Piper At The Gates Of Dawn“) auf ihren eigenen Leuten und den Abbey Road Studios bestanden. Für die zweite Single „See Emily Play“ (die für mich immer noch klingt, als hätten sich die Doors ausnahmsweise von ihrem Weltschmerz befreien können) wechselte die Band dann jedoch wieder ins Sound Techniques, weil sie unbedingt den „Arnold Layne“-Sound haben wollte. Nachdem Joe Boyd ein paar Jahre später auch noch die eigentlich schon fest zugesagten Vertriebsrechte für eine noch unbekannte schwedische Gruppe namens ABBA durch die Lappen gingen, dämmerte ihm wohl, daß er zwar berühmt und geachtet, aber niemals wirklich reich werden würde.

 

Bei Pink Floyd sah das inzwischen natürlich anders aus. Obwohl sie das Aushängeschild des London Underground waren, fühlten sie sich, mit Ausnahme von Syd Barrett, nie wirklich der Szene zugehörig. Nick Mason erklärte rückblickend einmal: „Wir wollten in die Hitparade, einfach nur einen Hit landen... Wir interessierten uns für das Rock'n'Roll-Geschäft und dafür, eine Popgruppe zu sein: Erfolg, Geld, Autos, das Übliche halt.“. Für Sentimentalitäten war bei Pink Floyd schon damals wenig Platz.

Dabei war aus handwerklicher Sicht anfangs noch viel Luft nach oben. Rick Wright war der Einzige, der sich als echten Musiker hätte bezeichnen können. „Wir mußten experimentieren, um uns auf andere Art und Weise auszudrücken, sonst hätten wir noch zehn Jahre Gitarre üben müssen.“ (Roger Waters in einem BBC-Interview). Und Nick Mason ergänzte: „Wir konnten nur in London spielen, weil das Publikum dort toleranter und eher bereit war, zehn Minuten Scheiße auszuhalten, um fünf Minuten lang gute Musik zu hören.“. Doch die Band entwickelte sich in rasanter Geschwindigkeit weiter, erfand sich praktisch jede Woche neu. Mit jedem neuen Verstärker, jedem von Barretts Feedback-Experimenten oder dem Einsatz seiner Echo-Box (Binson Echorec) machten Pink Floyd einen Schritt nach vorn. Und auch die Lichtshow, bei der sich nun angesagte Performancekünstler gegenseitig zu übertreffen versuchten, geriet immer aufwendiger und eindrucksvoller. So verwundert es auch nicht, daß die Band die Veröffentlichung des Liedchens „Arnold Layne“ am liebsten in letzter Sekunde noch gestoppt hätte, weil sie sich zum Zeitpunkt des Erscheinens (11. März 1967) schon nicht mehr ausreichend repräsentiert sah.

Die prägende Figur war zu jener Zeit ohne Zweifel Syd Barrett. Er hatte die meisten Ideen, er schrieb die meisten Songs (auf der ersten LP findet sich lediglich ein Stück, an dem er keine Aktie hatte) und er war der Frontmann. Mit seinem auffälligen Afro und den schrillen Hippieklamotten war er auch der optische Mittelpunkt. Und er wurde mehr und mehr zum Problem. Die schleichende Veränderung seines Charakters hatten seine Kumpels aus der Band nicht wirklich mitbekommen, und wenn doch, einfach gehofft, daß sich das schon wieder geben würde. Haschisch und Gras hatten eine Zeit lang seine Kreativität befeuert, doch als Acid hinzukam und bald die Oberhand gewann, begann Barrett, sich mehr und mehr in einer Welt aus englischen Märchen und alten chinesischen Texten (I-Ging), die er so gerne in seine Songs einfließen ließ, zu verfangen. Zu den „See Emily Play“-Sessions besuchte David Gilmour, der zufällig in der Stadt weilte, die Jungs im Studio und war geschockt. Sein ältester Freund hatte ihn nicht einmal erkannt!

Die Single stieg in England bis auf Platz 6, was hektische Aktivitäten zur Folge hatte. Als Pink Floyd im Juli drei Wochen hintereinander bei „Top of the Pops“ auftraten, weigerte sich Syd bei der letzten Show, die Bühne zu betreten. Auf einer eilig angesetzten England-Tournee spielte man in ganz gewöhnlichen Provinz-Tanzsälen und vor Publikum in Anzügen, das die Hits hören wollte. Die Band wollte aber lieber improvisieren, und es endete für beide Seiten in einer riesigen Enttäuschung. Natürlich prahlen heute jene Leute, die Pink Floyd für ihre schrägen und ellenlangen Stücke hassten, bei jedem Kneipenabend damit, Fans der ersten Stunde gewesen zu sein und die Band bereits 1967 bejubelt zu haben. Inzwischen schwankte Syd nur noch zwischen Aggression und Apathie. Auftritte mußten abgesagt werden, doch als Roger Waters ihn zu einem angesehenen Psychiater bringen wollte, lehnte er ab. Nachdem man Barrett eine mehrwöchige Erholungspause gegönnt hatte, obwohl „Piper At The Gates Of Dawn“ gerade erschienen war und promotet werden mußte, wurde in den folgenden Wochen versucht, den Rückstand wieder aufzuholen. Nach Auftritten in Skandinavien, Irland und Belgien ging es für acht Tage zum ersten Mal in die USA. Waters erinnert sich: „Es war ein unglaubliches Desaster. Syd war inzwischen völlig ausgeklinkt.“. Das wurde auch nicht besser, als man zurück in der Heimat war. Nach einem Auftritt in John Peels Radiosendung „Top Gear“, bei dem Barrett komplett ausrastete, landete man auf der Schwarzen Liste der BBC. Auch weigerten sich immer mehr Veranstalter, die Band überhaupt noch zu buchen. Eine Theorie besagt, daß das allgegenwärtige Stroboskoplicht in Verbindung mit Syds Drogen dazu führte, daß er auf der Bühne völlig die Orientierung verlor. Selbst dem größten Optimisten dämmerte nun, daß es wohl keine Konzerte mehr mit ihm geben würde. Und auch die Studioarbeit gestaltete sich immer komplizierter. Barrett war zum Hemmschuh geworden, und Ersatz mußte her.

 

David Gilmour hatte sich mit einer Band lange in Frankreich mehr schlecht als recht durchgeschlagen, kehrte im September 1967 nach England zurück und jobbte als Fahrer für eine Londoner Boutique. Anfang Dezember fühlte Nick Mason anläßlich eines Konzerts schon mal vor, ob Gilmour sich eventuell vorstellen könnte, einzusteigen. Nach einem vermasselten Auftritt kurz vor Weihnachten platzte der Band endgültig der Kragen. Zuerst fragte man bei Jeff Beck an, der es aber gerade nicht nötig hatte, einer fremden Kapelle beizutreten. Also wurde David angerufen und ohne Diskussionen und Vorspielen engagiert. Da man sich Syd Barrett aber nach wie vor freundschaftlich verbunden fühlte, probierte man es etwa einen Monat lang zu fünft. Dabei wurde ihm die Freiheit eingeräumt, auf die Bühne zu kommen, oder sie wieder zu verlassen, wann immer ihm danach war. Doch nicht einmal das funktionierte. Nach lediglich vier gemeinsamen Auftritten holten sie ihn zum fünften einfach nicht mehr zu Hause ab. Das war's dann.

Barrett veröffentlichte 1970 unter Mithilfe von Gilmour und Waters noch zwei Solo-Alben, die zwar nicht die Meisterwerke sind, als die sie uns heute gern verkauft werden, für Leute, die sich mehr für außergewöhnliche Songs, als für psychologische Deutungen interessieren aber trotzdem von Interesse sein könnten. Als sein Drogenkonsum und seine Krankheit immer bedrohlichere Ausmaße annahmen, ging er zurück nach Cambridge und zog sich völlig aus der Öffentlichkeit zurück, was der Legendenbildung weiter Vorschub leistete.

Bei Pink Floyd übernahm jetzt der Kontrollfreak Waters das Kommando und gab es bis 1985 nicht mehr aus der Hand. Auf „A Saucerful Of Secrets“, das mit „Jugband Blues“ und ein paar Gitarrenparts Barretts letzte Beiträge zur Geschichte der Band enthält, wird das schon mehr als deutlich. Allerdings entschied man sich auf „Relics“ für Rick Wrights „Remember A Day“. Dafür stammen dann beide Stücke, die man von „More“, dem Soundtrack zu Barbet Schroeders erstem Film (1969), auswählte, aus Waters' Feder.

 

Noch vor Erscheinen von „Atom Heart Mother“, ihrem ersten Nummer-1-Album in England, startete im September 1970 eine große Welttournee, die schon einiges der Gigantomanie der späteren Jahre vorwegnahm. Nicht ganz zu Unrecht befürchtete die Plattenfirma, daß es wohl mindestens ein Jahr dauern würde, bis eine neue Studio-LP nachgeschoben werden konnte. Um diese Zeit zu überbrücken, brachte man „Relics“ im Mai 1971 auf dem Budget-Label Starline zu einem attraktiven Preis in die Läden. Das Cover zierte eine Zeichnung Nick Masons, bei der der ehemalige Architekturstudent nicht zu verleugnen ist. In den USA, wo die Platte auf Harvest erschien, und einigen weiteren Ländern zeigte das Cover jedoch einen antiken Flaschenöffner in Form eines vieräugigen Gesichts. Auch in Deutschland kam die Platte auf einem EMI-Billiglabel (Emidisc) heraus (mit der Mason-Zeichnung). Ab der dritten Auflage wechselten die Label hierzulande wild von MFP über Harvest und Sounds Superb bis zu Super Sound. Sämtlichen Ausgaben gemein ist aber, daß die Single-A-Seiten „Arnold Layne“ und „See Emily Play“ im originalen Mono-Mix zu hören sind, während man für die ursprünglichen B-Seiten „Paintbox“, „Julia Dream“ und „Careful With That Axe, Eugene“ extra einen Stereo-Mix kreierte. Für neu hinzugekommene Fans bot „Relics“ eine ausgezeichnete Möglichkeit, im Schnelldurchlauf zu den Wurzeln der Band vorzustoßen. Zumal diese im Gegensatz zu den Frühwerken von Yes oder Genesis schon eher auf das hinwiesen, was noch kommen sollte. Nimmt man die im Jahr zuvor in Holland erschienene LP „The Best Of The Pink Floyd“, die später als „Masters Of Rock“ auch in Deutschland erhältlich war, hinzu, hat man die Aufnahmen der ersten fünf UK-Singles fast zusammen. Lediglich „Point Me At The Sky“ fehlt. Sollten diese kleine Lücke oder der Umstand, daß der Jäger und Sammler in Ihnen nicht zur Ruhe kommt, den Ausschlag geben, den Aufbau einer respektablen Pink-Floyd-Singles-Kollektion ins Auge zu fassen, ist eine Warnung angebracht. Nicht nur die Exoten (einige frühe Singles erschienen z.B. auch in Indien, Pakistan, Ägypten, Rhodesien oder Nigeria) stellen eine heute kaum noch zu überwindende Hürde dar, auch viele europäische Ausgaben erzielen inzwischen astronomische Preise! Selbst für ein Exemplar von „See Emily Play / The Scarecrow“, das liebevoll nachgestaltet und auf pinkfarbenem Vinyl (wie originell) 2013 zum Record Store Day erschien (siehe Bildergalerie), zahlt man heute schon das Dreifache des Ladenpreises. Ich erwähne das nur, damit mich nicht irgendwann der Vorwurf trifft, Ihre kleine Erbschaft wäre komplett für ein paar schwarze Scheiben in bunten Papierhüllen draufgegangen!

 

Wie üblich komme ich am Ende noch zu einem Versuch der klanglichen Einordnung. Was darf man von einer Platte erwarten, die Aufnahmen versammelt, die über einen Zeitraum von über zwei Jahren, in denen sich die Band zudem in einer stetigen Weiterentwicklung befand, entstanden sind? Verschiedene Produzenten und Toningenieure, wechselnde Studios, eine leicht variierende Besetzung und eine Mischung aus Mono- und Stereotracks lassen ein einheitliches Klangbild schon mal nicht zu. Wenn Sie also die großen Floyd-Alben der 1970er Jahre, die alle mit der jeweils neuesten Technik und enormen Budgets eingespielt wurden, als Maßstab nehmen, müssen Sie bei „Relics“ natürlich Abstriche machen. Allerdings fanden Pink Floyd auch in ihren Anfangsjahren schon Bedingungen vor, von denen die meisten Bands in England nur träumen konnten. Einen klareren Sound des „Swinging London“ der späten Sixties werden Sie kaum finden. Den Sticker „historisch wertvoll“ kann man sich dann noch als Bonus dazubasteln.

Die LP gehörte nie zu den erklärten Favoriten der Fangemeinde, wurde aber trotzdem in unzähligen Ländern veröffentlicht und zigmal neu aufgelegt. Selbst in den Box-Sets „The First XI“ (1979) und „Pink Floyd – 97 Vinyl Collection“ (dort mit dem Cover der 96er CD-Ausgabe) ist sie enthalten. Wenn es also nicht unbedingt eines der erklärten Sammlerstücke sein muß (z.B. die japanische Odeon-Erstauflage im Klappcover und auf rotem Vinyl oder die mexikanische Fehlpressung mit der A-Seite von „The Dark Side Of The Moon“), dann sollten Sie recht günstig in den Genuß von „Relics“ kommen können.

Vier durchaus erschwingliche Exemplare stehen in meinem Regal. Da wäre zum einen die englische Erstpressung (Starline SRS 5071), die man daran erkennt, daß die arcline auf den Labels mit den Worten „The Gramophone Co. Ltd.“ beginnt. Kurz darauf wechselte die Beschriftung in „EMI Records Ltd.“. Auch das Strukturcover fiel dann weg. Meine deutsche Ausgabe (Emidisc 048-CRY-50 740) stammt wohl von 1976. Das Original besaß noch eine etwas andere Katalognummer und keinen Labelcode. Die englische Pressung von 1978 (MFP 50397) kommt dann mit einem Cover, auf dem der Titel und der Name der Band erstmals pinkfarben sind. Etwas aus dem Rahmen fällt die vierte Variante. In Australien erschienen die ertsen beiden Auflagen von „Relics“ auf HMV und mit dem „four-eyed face“-Cover. Ab der dritten kam ein völlig neues Motiv ins Spiel, das eine Seekarte und antike Münzen zeigt. Bis zur letzten Vinylausgabe (Axis Records AX-1100) behielt man dieses bei. 2012 kam dann eine sehr detailgetreue Nachahmung dieser Platte auf den Markt, allerdings mit pink gefärbtem Vinyl. Ob die wirklich Down Under hergestellt wurde, darf bezweifelt werden. Ich tippe eher auf die üblichen Verdächtigen, wenn es um solche nicht eben legalen Produkte geht: Spanien oder Italien. Und zumindest meine Pressung, obwohl nagelneu und optisch ohne erkennbare Mängel, klingt dann auch, als wäre sie in einem finsteren Keller von Leuten hergestellt worden, die normalerweise Beschäftigungen nachgehen, bei denen Feingefühl nicht gefragt ist, und die aber auch gar nichts mit der Reproduktion von Musik zu tun haben. Das ist schlicht Schrott und höchstens zu Dekozwecken geeignet. Die drei legalen Platten hingegen nehmen sich nichts. Man muß sie also nicht alle haben, aber eine ist Pflicht, wenn man sich auch nur ein wenig für Pink Floyd erwärmen kann.

 

Musik: 7,5

Klang: 7,5 (England, 1971)

Klang: 7,5 (Deutschland, 1976)

Klang: 7,5 (England, 1978)

Klang: unterirdisch („Australien“, 2012)

 

Roanld Born, Januar 2016