Nina Simone – Here Comes The Sun (1971)
Inzwischen vergeht ja kaum ein Monat, in dem nicht irgendjemand irgendein Album aus dem reichhaltigen Œuvre Nina Simones wiederveröffentlicht. Auf Vinyl wohlgemerkt. Nur leider hat die, vor gut zehn Jahren in Frankreich an Krebs gestorbene, farbige Sängerin selbst nichts mehr von diesem Boom. Er zeigt jedoch nach wie vor, oder mehr denn je, die gewaltige Wertschätzung, die ihrer Kunst entgegengebracht wird. Einer Kunst, die keine Genregrenzen zu kennen schien, und die über einen Zeitraum von immerhin 35 Jahren kaum Ermüdungserscheinungen erkennen ließ.
Aus relativ gesicherten Verhältnissen stammend, erfuhr sie schnell am eigenen Leib, was es hieß, als Farbige in Amerika aufzuwachsen. So sollten ihre Eltern bei ihrem Konzertdebüt, das sie im Alter von zwölf Jahren gab, ihre Plätze für Weiße räumen. Eunice Kathleen Waymon, wie sie damals noch hieß, setzte das Konzert erst fort, als sie wieder in der ersten Reihe saßen. Auch die angestrebte Laufbahn als klassische Konzertpianistin wurde von rassistischen Einschränkungen torpediert. Zu Beginn der 1950er Jahre entdeckte sie ihre ausdrucksstarke Altstimme als passendes Instrument, all ihre Frustration, ihre Ängste und Hoffnungen in die Welt hinauszuschreien. 1954 legte sie sich ihren Künstlernamen, unter anderem aus Verehrung für Simone Signoret, zu und veröffentlichte vier Jahre später ihre erste Platte bei dem auf Jazz und Blues spezialisierten New Yorker Label Bethlehem Records. Außerdem bildeten Gospel und klassische Musik, mit denen sie seit ihrer Kindheit bestens vertraut war, das Grundgerüst ihrer Konzerte und Aufnahmen, häufig von ihr zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen. Ihr musiktheoretisches Wissen war enorm und erlaubte ihr schon früh, maßgeblich Einfluß auf die Arrangements der Stücke zu nehmen. Als sie 1959 zu Colpix Records wechselte, ließ sie sich vertraglich auch die alleinige Kontrolle in künstlerischen Fragen sowie bei der Auswahl des Materials zusichern. Die bis an ihr Lebensende bestehenden Vorbehalte gegenüber der Unterhaltungsindustrie wurden dadurch jedoch nicht geschmälert. Bei Colpix begann sie, sich auch in popmusikalische Gefilde zu wagen, einfach, um genügend Geld für ihre weitere klassische Ausbildung zu verdienen. Aus dieser Motivation machte sie auch öffentlich kein Hehl, was ihrem Ruf, eine unberechenbare Diva zu sein, nur neue Nahrung gab.
Als Nina Simone 1964 erneut die Plattenfirma wechselte und bei Philips unterschrieb, nahm die amerikanische Bürgerrechtsbewegung gerade Fahrt auf. Deutlicher als vorher positionierte sie sich mit Songs wie „Mississippi Goddam“, das die Ermordung von Medgar Evers zum Anlaß hatte (siehe auch Dylans „Only A Pawn In Their Game“), Billy Holidays „Strange Fruit“ oder „Why? (The King Of Love Is Dead)“ über die Ermordung Martin Luther Kings. Ihr klares öffentliches Bekenntnis ließ sie schnell zu einer der populärsten Streiterinnen für die Rechte der Farbigen werden. Nur wenige Jahre später sollte sie sich jedoch tief enttäuscht von den Ergebnissen der Bürgerrechtsbewegung zeigen.
Den Titel „Hohepriesterin des Soul“, der ihr seit jenen Jahren anhaftete, haßte sie. Hingegen genoß sie es, mit „Dr. Simone“ angesprochen zu werden, nachdem ihr gleich zwei Universitäten die Ehrendoktorwürde verliehen hatten.
Bereits 1969 brachte Nina Simone bei RCA die LP „To Love Somebody“ heraus. Diese und die hier vorliegende lassen sich kaum getrennt betrachten. Auch wenn beide von unterschiedlichen Produzenten betreut wurden, und eventuell auch andere Musiker beteiligt waren (auf „Here Comes The Sun“ wird keiner namentlich aufgeführt), klingen die Platten wie aus einem Guss. Vor allem aber ist es die Songauswahl, die erhebliche Parallelen aufweist. Ein bißchen Beatles, eine gehörige Portion Dylan, jeweils ein Stück eines aufstrebenden Songwriters (Jerry Jeff Walker hier, Leonard Cohen dort) sowie einige Erfolgsnummern aus den Charts („Angel Of The Morning“ und „O-o-h Child“ hier, „Turn! Turn! Turn!“ und ein furioses „I Can't See Nobody“ dort) lassen das Konzept erkennen. Das war offensichtlich auf eine breitere Käuferschicht ausgerichtet. An all die Feinschmecker und Nörgler späterer Generationen dachte damals, als Erfolg und Überleben ebenfalls schon von verkauften, weniger von mit Kritikerlob überhäuften Platten abhingen, noch niemand. Doch auch für die, die meinen, Versionen von „Just Like A Woman“ oder „Mr. Bojangles“ schon viel zu oft gehört zu haben, gab und gibt es hier noch genügend zu entdecken.
Das beginnt gleich mit „Here Comes The Sun“, das die Beatles zwei Jahre zuvor, warum auch immer, nicht als Single veröffentlicht hatten. Als Radio-Dauerbrenner war die Nummer natürlich trotzdem noch allgegenwärtig, als Nina Simone sie für die Hotelbar umarrangierte. Ein Jahr später sollte sie auf dem Album „Emergency Ward“ zwei weitere Harrison-Songs, „My Sweet Lord“ und „Isn't It A Pity“, kongenial zur Aufführung bringen.
Waren es auf „To Love Somebody“ noch drei Stücke aus dem damals schon reichhaltigen Dylan-Katalog, ist „Just Like A Woman“ diesmal der einzige Vertreter. Beginnend mit dem Refrain und unter Verzicht auf die zweite Strophe macht sie den Song zu ihrer ganz persönlichen Angelegenheit, als sie am Ende die Personalpronomen austauscht: „And I break just like a little girl.“. Ergreifend!
Das Arrangement von „O-o-h Child“ unterscheidet sich mit seinen Streichern und Backgroundsängerinnen nicht dramatisch vom Original-Hit der Five Stairsteps. Jedoch sorgt die wesentlich rockigere Arbeit des Schlagzeugers für richtig Drive und der Gesang spielt sowieso in einer eigenen Liga.
Die rührende Geschichte von „Mr. Bojangles“ wurde seit 1968 unzählige Male vorgetragen. Bei der Nitty Gritty Dirt Band (1970) sieht man ihn förmlich tanzen, während David Brombergs Live-Version (auf „Demon In Disguise“ von 1972) witzig wie authentisch ist. Gemessen an diesen wohl gelungensten Interpretationen des Liedes von Jerry Jeff Walker wirkt Nina Simones Version zu gefällig, kommt über die Rolle des amüsierten Beobachters nicht hinaus.
Leider wurde kürzlich auf „Another Self Portrait“ die Chance vertan, mir einen großen Wunsch zu erfüllen, und Bob Dylans Aufnahme von „Mr. Bojangles“, die ja aus den Sessions zu „New Morning“ stammt, entschlackt und befreit von Overdubs in seiner ursprünglichen Form zu präsentieren. Bis das vielleicht irgendwann einmal geschieht, ziehe ich dann doch Dr. Simones Version vor.
Das Brill-Building-Paar Barry Mann und Cynthia Weil war für unzählige Hits wie „Blame It On The Bossa Nova“ oder „You've Lost That Lovin' Feelin'“ verantwortlich, und es überrascht, daß die streitbare Nina Simone mit „New World Coming“ ausgerechnet ein Stück von deren Fließband auswählte. Weniger überraschend ist dann das Ergebnis: eine gospelgetränkte Prophezeiung.
„You've Lost That Lovin' Feelin'“ hatte Elvis Presley 1970 in seine Show in Las Vegas eingebaut. Das Arrangement dafür besorgte der Gitarrist Bill Aken, ein Freund von Simone. Und dieser machte sie auf einen Song aufmerksam, den sie unter der Bedingung aufnahm, daß ihr Aken ein ähnlich anspruchsvolles Arrangement dafür schrieb, wie im Jahr zuvor für Elvis. „Angel Of The Morning“ beginnt mit zartem Harfenspiel, die Engel singen. Später kommen Streicher hinzu und die Künstlerin bestimmt durch die unorthodoxe Betonung mancher Silben und Worte den ganz eigenen Rhythmus des Stückes. Geschrieben hatte es Chip Taylor, der auch noch Autor von „Wild Thing“ und Onkel von Angelina Jolie ist. Ursprünglich sollte Connie Francis das Lied singen, hatte aber Bedenken wegen des Textes, in dem es um eine unerlaubte Liebesbeziehung geht. Merrilee Rush war da weniger zimperlich und sang sich im Sommer 1968 auf Platz 7 der US-Charts. Ein Grammy folgte. In England, wo Rushs Version die Top-50 verfehlte, wurde sie von der 21-jährigen P.P.Arnold übertrumpft, die mit ihrer Single immerhin Platz 29 erreichte und ihren zweiten Hit nach „The First Cut Is The Deepest“ feiern konnte.
„How Long Must I Wander“ wurde Nina Simone von ihrem Bandleader Weldon Irvine offensichtlich auf den Leib geschrieben. Es steht ihr auch sehr gut, nur paßt es hier nicht ins Konzept. Diese Platte bezieht einen Großteil ihrer Faszination daraus, daß man die präsentierten Songs unweigerlich mit den wohlbekannten Originalen vergleicht, sich an den einfallsreichen Arrangements erfreut oder sich einfach darüber wundert. Das Hören gleicht einer Entdeckungsreise voller Überraschungen. Doch wenn man dann auf dieses Stück trifft, ist man etwas ratlos. In diesem Kontext funktioniert es einfach nicht. Ganz im Gegensatz zum letzten Song des Albums.
Natürlich und vielleicht sogar ausschließlich denkt man bei „My Way“ an Frank Sinatra. Sollte Nina Simone mit der Auswahl dieser Nummer nebenbei ein wenig provoziert haben wollen, so ist ihr das sicherlich gelungen. Es geht von der großen Bühne in Las Vegas direkt in den afrikanischen Dschungel. Congas treiben das Lied vor sich her, so daß bei diesem wilden Galopp kein Platz mehr bleibt für Sinatras larmoyante Selbstgerechtigkeit. Für hartgesottene Fans von „Ol' Blue Eyes“ dürfte das an Gotteslästerung gegrenzt haben. Ich kann Ihnen nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob ihre Version wirklich besser ist. Aber Fakt ist, sie ist anders, ziemlich anders sogar. Und ich bin immer wieder begeistert.
Nun wird niemand behaupten, „Here Comes The Sun“ sei das beste Album von Nina Simone. Da gibt es weit kreativere, „künstlerisch wertvollere“ (was immer man sich darunter auch vorstellen mag). Mehr oder weniger spontan fallen mir dazu „Nina Simone At Carnegie Hall“ (von 1963 und nur echt, wenn es ein bißchen brummt und rauscht), „Nina Simone Sings The Blues“ (1967) und aus dem Spätwerk „Baltimore“ (1978, gemastert von Rudy Van Gelder) ein. Wenn man aber einfach nur niveauvoll unterhalten werden möchte, um Jazz vielleicht sonst einen Bogen macht und dennoch einen Einstieg in das Werk dieser einzigartigen Sängerin wagen will, gibt es keine bessere Empfehlung. Denn auch wenn sich manche Idee nicht unbedingt als Geniestreich entpuppt, ist nicht zu überhören, daß hier eine ganz große Künstlerin am Werk ist.
Zur Auswahl stehen nun zwei Exemplare: eine englische Originalausgabe von 1971 (RCA Victor SF-8192) sowie eine 180-Gramm-Pressung von 4 Men With Beards aus dem Jahr 2011(4M808). Dieser kalifornische Reissue-Spezialist hat außerdem noch „Sings The Blues“ und „To Love Somebody“ im Programm. Der tadellos gefertigte US-Sproß klingt insgesamt ausgewogen und rund. Mehr Emotion bietet hingegen die gut 40-jährige Engländerin. Natürlich ist das eine subjektive Einschätzung, aber schließlich reden wir ja hier vom Musikhören.
Musik: 7,0
Klang: 8,0 (England, 1971)
Klang: 7,5 (USA, 2011)
Ronald Born, November 2013