Nick Drake – Five Leaves Left (1969)

 

Bevor Sie jetzt hektisch bis zur Bildleiste scrollen: nein, auch ich bin nicht im Besitz der Erstausgabe dieser Platte. Und wenn sich mein Gehalt nicht mehr dramatisch erhöht, oder der Preis für diese Rarität gehörig in den Keller rutscht (Anzeichen sind für beides weit und breit nicht in Sicht), wird das wohl auch so bleiben. Man sollte sich also nach brauchbaren Alternativen umschauen.

 

Im Jahr 1969 kostete eine neue LP in England etwa zwei Pfund, bei einem durchschnittlichen Wochenverdienst von ca. 30 Pfund. Wenn Sie mal irgendwas von 300.000 Pfund die Woche gehört haben, verwechseln Sie das gerade mit Wayne Rooney im Jahr 2014. Trotzdem könnte ich wetten, daß der die Platte auch nicht hat. Was ich sagen will, ein Normalsterblicher mußte sich schon damals genau überlegen, wofür er sein Geld ausgibt. Und selbst, wenn Schallplatten ganz weit oben auf der Prioritätenliste standen, hatte man im Herbst 1969 die Qual der Wahl zwischen „Abbey Road“, „Through The Past, Darkly“ von den Stones, Pink Floyds „Ummagumma“, dem zweiten Album von The Band, dem dritten von The Nice, „Stand Up“ von Jethro Tull, „Led Zeppelin II“ oder „Basket Of Light“ von Pentangle. Wer kann es also selbst den musikverrückten Engländern verübeln, daß sie in einer Flut an Veröffentlichungen etablierter Stars das Debüt eines so schüchternen wie unbekannten 21-Jährigen schlicht übersahen?

 

Auch mir sagte der Name Nick Drake lange gar nichts. Dennoch bin ich ein wenig stolz, daß es keines Werbespots bedurfte, um mich doch noch hellhörig werden zu lassen. Ende der 90er Jahre kaufte ich mir eine Platte, die „The Greater Antilles Sampler“ hieß (Antilles AX 7000). Mir ging es um Leute wie Gay & Terry Woods, Shirley Collins, Martin Carthy, June Tabor oder die Albion Country Band, die alle mit jeweils einem Titel darauf vertreten waren. Erst später wurde mir klar, daß dieser Sampler dazu dienen sollte, Künstler, die in England bei Island Records unter Vertrag standen, endlich auch in Amerika bekannt zu machen. Zu diesem Zweck hatte man Antilles Records als „revolutionary mid-priced label“ im Jahr 1976 in Los Angeles ins Leben gerufen und aus Islands Back-Katalog gleich einen ganzen Schwung an LPs übernommen. Die Platte beginnt mit „Northern Sky“ von Drakes zweitem Album „Bryter Layter“, womöglich seiner besten Aufnahme überhaupt. Mein Interesse war geweckt, hielt sich aber in überschaubaren Grenzen. Dem Cover entnahm ich noch den Hinweis, daß „the first album by this brilliant singer/songwriter“ „Five Leaves Left“ hieß und ebenfalls bei Antilles erschienen war. Immerhin war ich so sensibilisiert, daß ich in meist englischen Publikationen nun immer häufiger auf seinen Namen stieß. Die erste Platte, die mir in die Hände fiel, hieß „Tanworth-in-Arden 1967/68“ (Anthology ANT. 15.21). Dieses nicht ganz legale Produkt versammelte 18 Aufnahmen, die er im genannten Zeitraum im Haus seiner Eltern aufgenommen hatte. Darunter finden sich schon mehrere Eigenkompositionen. Der Rest sind Coverversionen und Traditionals. Auch zwei Dylan-Songs sind enthalten und waren wohl der Hauptgrund, die Scheibe zu erwerben. Viel später las ich mal, daß Drakes liebenswürdige und arglose Mutter die Bänder Fans ihres Sohnes geschenkt hatte, die nach seinem Tod vor ihrem Haus herumlungerten. Natürlich schimmert auch durch diese schlichten Amateuraufnahmen schon Nicks Talent als Songschreiber und Gitarrist. Aber aus heutiger Sicht läßt sich so etwas auch leicht sagen. Ein paar Jahre sollten noch ins Land gehen, bis ich mir alle drei offiziellen Alben auf CD zulegte.

 

Doch woher kam dieser Bursche, der heute längst kein Geheimtipp mehr ist und generationenübergreifend seine Fans in Rührung versetzt? Geboren 1948 in Burma, wo sein Vater als Ingenieur arbeitete, wuchs er ab 1950 in der Nähe von Birmingham auf, besuchte ausgewählte Schulen und lernte früh Klavier spielen. Auch erste eigene Kompositionen folgten schnell. 1965 gründete er mit Schulfreunden eine Band, der auch Chris de Burgh beitreten wollte. Allerdings wurden dessen musikalische Vorlieben als „zu poppig“ eingestuft. Im gleichen Jahr kaufte sich Nick seine erste Gitarre und begann, sich intensiv mit dem Instrument zu beschäftigen. Nach einem halben Jahr an der Universität von Marseille kehrte er nach England zurück und begann im Herbst 1967, in Cambridge englische Literatur zu studieren. Es ist überliefert, daß er nicht der strebsamste Student war, und sich in Cambridge seine sportlichen Aktivitäten gegen Null zu bewegen begannen, dafür aber sein Interesse an Musik und Marihuana sprunghaft zunahm.

 

Anfang 1968 traten Fairport Convention bei einem großen Konzert gegen den Vietnamkrieg auf. Zum Ende der Veranstaltung, gegen drei Uhr am Morgen, hörte Ashley Hutchings Nick Drake und war begeistert. Er gab dem Manager und Produzenten Joe Boyd Drakes Telefonnummer, und als Nick diesem ein Demoband vorbeibrachte, begann die Geschichte, Fahrt aufzunehmen. Boyd erkannte sofort das außergewöhnliche Potential, und nahm ihn für seine Firma Witchseason, die eng mit Island Records verbunden war, unter Vertrag.

Im Juli begannen die Aufnahmen für „Five Leaves Left“ im Londoner Sound Techniques Studio. Regie führte das bewährte Duo Joe Boyd (Produzent) und John Wood (Toningenieur). Nick Drake, der noch nie zuvor in einem professionellen Studio gearbeitet hatte, machte es den beiden recht leicht. Egal, wie oft und zu welcher Uhrzeit eine Aufnahme wiederholt wurde, er verspielte sich nie, war die Zuverlässigkeit in Person. Auch die Begleitmusiker waren absolute Profis. Danny Thompson von Pentangle spielte Bass, bestimmt und souverän wie immer, stets bemüht, im Stile eines Liberos der alten Schule, dem besten Mann auf dem Platz für die genialen Momente den Rücken frei zu halten. Fairports Richard Thompson spielte auf „Time Has Told Me“ eine fließende E-Gitarre. Es war sein erster Job als Sessionmusiker. Der afrikanische Perkussionist Rocky Dzidzornu ist auf „Three Hours“ und „Cello Song“ zu hören. Er überbrückte damit praktisch die Pause zwischen den Aufnahmen zu „Sympathy For The Devil“ und „You Can't Always Get What You Want“, bei denen er jeweils als „Rocky Dijon“ mitwirkte. Joe Boyd war der Auffassung, daß die sehr fragilen, zurückhaltenden Songs Nick Drakes durch Streicherarrangements nur gewinnen konnten. Nick hatte nichts dagegen, soweit man das beurteilen konnte. Er war in der ungewohnten Umgebung inmitten all der versierten Musiker und Studiocracks noch unsicherer und reservierter als sonst, brachte kaum mehrere Sätze am Stück heraus. Boyd war fasziniert von „Songs Of Leonard Cohen“, das vor gut einem halben Jahr erschienen war, und auf dem opulente Arrangements Cohens Stimme umschmeichelten, ohne vom Kern abzulenken (auch wenn Cohen selbst das anders sah). Etwas in der Art stellte er sich für Drakes Album vor, und man beauftragte Richard Hewson, der gerade die Arrangements für James Taylors erste Platte bei Apple geschrieben hatte, sich Gedanken zu machen. Nun sind aber genau diese es, einige Stücke der LP förmlich erdrückend und sich unbarmherzig in den Vordergrund schiebend, die mir Taylors Debüt bis heute verleiden. Hören Sie sich nur mal „Knocking 'Round The Zoo“ oder „Carolina In My Mind“ an! Ich will mir gar nicht vorstellen, was aus „Five Leaves Left“ geworden wäre, hätte man das Experiment nicht nach ersten Versuchen frustriert abgebrochen! Und dann meldete Nick sich doch einmal zu Wort. Es gäbe da in Cambridge einen Studienfreund, der ihm schon einmal für ein kleines Konzert Streicher arrangiert hätte. Boyd wollte keine Amateure, gab aber nach. Und so wurde Robert Kirby Teil des Projektes, und schon der erste Song, den man gemeinsam aufnahm („Way To Blue“), profitierte unglaublich von Kirbys ungewöhnlichen Ideen. Wie wohl jeder Songschreiber jener Tage war Drake unter anderem von Dylan beeinflußt. Aber er war durchaus auch, wohl durch seine Klavierausbildung und sein Elternhaus, in klassischer Musik bewandert. Als die Aufnahmen für „River Man“ anstanden, stellte Nick sich vor, daß das Stück nach Frederick Delius und Maurice Ravel klingen sollte. Kirby kapitulierte, und John Wood schlug den Filmkomponisten Harry Robinson vor, der angeblich in der Lage war, jeden zeitgenössischen Komponisten zu imitieren, den man verlangte. Mit dem Ergebnis waren dann alle hochzufrieden. Ich habe zwar keine Ahnung, wie Delius klingt, aber ohne diese dräuenden Streicher kann ich mir das Stück gar nicht mehr vorstellen.

 

Aus „Five Leaves Left“ lassen sich unzählige Einflüsse heraushören. Das reicht von Jazz und Bebop über Country und Blues bis zu Bossa Nova und exotischer Folklore aus fernen Ländern. Drakes Melodien sind verführerisch, Akkordfolgen und Rhythmen ausgesprochen komplex. Sein Gitarrenspiel läßt sich mit nichts Bekanntem vergleichen. Oft meint man, mindestens zwei Instrumente gleichzeitig zu hören. Joe Boyd stellt den Gitarristen Nick Drake über alle anderen. Und der Mann hat mit Richard Thompson, John Martyn und Eric Clapton zusammengearbeitet! Auch Nicks Piano auf „Saturday Sun“ bedient sich ähnlicher Strukturen wie seine Gitarrenbegleitungen. Ständig passiert irgend etwas, gibt es unvorhergesehene Wendungen, ohne daß man wirklich verstehen würde, was da genau vor sich geht. Wenn Sie Folk reinsten Wassers mögen, wird das bestimmt nicht Ihre bevorzugte Platte werden. Mich erinnert das eher an raffinierte französische Chansons, schweren Rotwein und Zigaretten. „Bryter Layter“, das zweite Album, wirkt dann schon reifer, auch kompakter. Die Arrangements sind, auch Dank der Mitarbeit von John Cale, weniger verspielt. Und „Pink Moon“, das Drake auf eigenen Wunsch lediglich mit Gitarre und Piano in gerade mal zwei Tagen einspielte, agiert sowieso in einer ganz eigenen Kategorie. Mit Pop oder Rock hat das alles herzlich wenig zu tun. Aber es erweitert den eigenen Horizont auf eine faszinierende Weise.

 

Die Texte, beeinflußt von tragischen Helden der englischen Literatur, sind, sehr verallgemeinernd gesprochen, tieftraurig, verzweifelt und fatalistisch. Hat der Weltschmerz einmal nicht die Oberhand, singt Drake dann meist nicht in der ersten Person. Aus heutiger Sicht wirken die Sätze in Songs wie „Day Is Done“ oder „Fruit Tree“ sehr offensichtlich und prophetisch. Doch damals machte sich anscheinend kaum jemand Sorgen um Nicks seelische Verfassung. Als er dann irgendwann so am Boden zerstört war, daß er seine überragenden künstlerischen Fähigkeiten nicht mal mehr im Ansatz abrufen konnte, schickten ihn Freunde zum Arzt. Das Ergebnis war eine Überdosis Antidepressiva, an der er am 25. November 1974 starb, ob absichtlich, oder in Unkenntnis der Wirkung, wurde nie geklärt. Als seine Mutter ihn leblos in seinem Zimmer fand, lagen auf dem Plattenteller angeblich Bachs „Brandenburgische Konzerte“ und auf dem Nachttisch „Der Mythos des Sisyphos“, Albert Camus' philosophische Abhandlung über Schicksal und Tod. Die Mystifizierung Nick Drakes setzte noch vor der Leichenstarre ein.

 

Zum Zeitpunkt ihres Erscheinens verkauften sich alle LPs von Drake denkbar schlecht. Heute wird das gern auf mangelnde Unterstützung seitens der Plattenfirma zurückgeführt, was aber nicht stimmt. Joe Boyd und auch Chris Blackwell, Besitzer und allmächtiger Chef von Island Records, liebten Drakes Musik über die Maßen. Also ließen sie auch seinen Platten die üblichen Marktmechanismen angedeihen. Nur ein Vertriebspartner für Amerika konnte nicht gefunden werden. Musikmagazine wurden mit Exemplaren von „Five Leaves Left“ beliefert und berichteten, wenn auch nicht immer sachkundig oder wohlwollend, darüber. Aber wie sagen Marketingexperten dann immer: Hauptsache, der Name ist richtig geschrieben! John Peel und Bob Harris spielten die Scheibe in ihren Radiosendungen bei der BBC. Singles wurden jedoch nicht ausgekoppelt, weil man wohl richtig erkannt hatte, daß kein Song für das Hit-Radio geeignet gewesen wäre. Als die LP „Nice Enough To Eat“ erschien, befand sich darauf „Time Has Told Me“ in der illustren Gesellschaft von hochkarätigen Island-Künstlern wie King Crimson, Jethro Tull, Traffic, Mott the Hoople, Fairport Convention oder Free. Der Sampler kostete weniger als die Hälfte einer normalen LP. Keiner soll also sagen, es wäre einfach nicht möglich gewesen, Nick Drake für sich zu entdecken. Allerdings fordern seine Platten auch ein gehöriges Maß an Konzentration und ein wenig Geduld ein. Mal so nebenbei sollte man sie nicht auflegen.

 

Im ersten Absatz zu Fotheringay schreibe ich darüber, wie Fairport Convention Ende September 1969 ihr neuestes Programm, aus dem sich kurz darauf „Liege & Lief“ zusammensetzen sollte, vor ausverkauften Häusern vorstellten. Das erste jener gefeierten Konzerte fand am 24. September in der Royal Festival Hall in London statt. Den ersten Teil bestritten John und Beverly Martyn, gefolgt von Nick Drake. Es war Nicks erster Auftritt vor einer so großen, erwartungsfrohen Menge, und alle waren nervös gespannt, wie er diese Herausforderung meistern würde. Es wurde für ihn ein triumphaler Abend! Das Publikum fraß ihm, der keine Ansagen machte und zwischen den Songs permanent seine Gitarre umstimmte, aus der Hand. Also stellte Joe Boyd eine kleine Tour durch Clubs und Universitäten zusammen, um sein erstes Album zu präsentieren. Nach dem dritten Gig rief ihn der entnervte Künstler an, um ihm mitzuteilen, daß er aussteige. Einer Meute, die sich während der Konzerte lautstark unterhielt, Bier holte und den Sinn einer anders gestimmten Gitarre nicht verstand und das auch kundtat, war er nicht gewachsen. Er sollte nie wieder live auftreten, was die ernüchternden Verkaufszahlen seiner Werke zumindest teilweise erklärt. Ein Freund von mir sah Nick Drake 1968 in einem Pub in Cambridge. Er kann sich zwar an den Titel keines einzigen Liedes erinnern (die damals ja noch keiner kannte), aber er versicherte mir, daß Drake dort keineswegs der sensible und wortkarge Performer war, als der er später immer beschrieben wurde. Irgendetwas mußte passiert sein.

 

Heute taucht „Five Leaves Left“ regelmäßig auf, wenn Listen mit den „Besten Alben aller Zeiten“ zusammengestellt werden. Wie aber läßt sich so ein radikaler Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung erklären? Zunächst einmal machte Joe Boyd, als er Witchseason an Island verkaufte, zur Bedingung, daß Nicks drei LPs nicht aus dem Katalog gestrichen werden durften. Eine ähnliche Klausel war auch Bestandteil des Vertrages, der dann im Jahr 1989 den Verkauf von Island an PolyGram regelte. Diesmal hatte Chris Blackwell darauf bestanden. Das heißt nichts anderes, als daß diese Platten, trotz ihres Mauerblümchendaseins, seit ihrer Veröffentlichung immer verfügbar gewesen sind. Wenn sie denn jemand hätte haben wollen.

Mit den Jahren erschienen erst vereinzelt, dann immer häufiger Artikel über jenen wundersamen Künstler, den alle in seinem Umfeld liebten und für ein Genie hielten, der aber der breiten Masse nahezu unbekannt geblieben war. Ab 1997, dem Jahr in dem die erste große Drake-Biographie von Patrick Humphries erschien, tauchten seine Songs auch vermehrt in Filmproduktionen auf. Und im Dezember 1999 platzte mit dem Werbespot für ein neues Golf-Cabriolet, der mit „Pink Moon“ untermalt wurde, endgültig der Knoten. Der Spot hieß „Milky Way“, weil ursprünglich „Under The Milky Way“ von der australischen Band The Church dafür vorgesehen war. Erst in letzter Minute entschied man sich für „Pink Moon“ und trat eine Lawine los. Plötzlich begannen sich Scharen von Teenagern für diesen tragischen Typen und seine Musik zu interessieren. Sicher war dabei sein früher Tod nicht ganz unerheblich, aber auch die Tatsache, daß die Kids Musik für sich entdecken konnten, die ihren Eltern vollkommen unbekannt war. Nick Drake stieg erstmals in die britischen Charts ein.

 

Five Leaves Left“ erschien am 1. September 1969. Probleme bei der Nachbearbeitung des Materials hatten für Verzögerungen gesorgt. Man spendierte der LP ein Klappcover, auf dessen Innenseite drei Texte abgedruckt waren: der von „Saturday Sun“, von „Three Hours“ (warum auch immer als „Sundown“ bezeichnet) sowie der von „River Man“ mit einer dritten Strophe, die im Song nicht vorkam. Aber es gab noch einen Fehler. Man vertauschte auf der Rückseite die Songs „Way To Blue“ und „Day Is Done“. Das Label der Platte (ILPS 9105) war das sogenannte Block-Label. In der Geschichte von Island gab es nur knapp ein Dutzend LPs mit diesem sehr dekorativen Etikett. Seit Oktober 1967 war das legendäre Pink-Label von einem stilisierten Auge in schwarz und orange geziert worden. Ab Herbst 1969 folgte dann das sogenannte „i“-Logo, ein weißes „i“ auf pinkfarbenem Hintergrund, bevor im November 1970 das Pink-Rim-Label für die nächsten fünf Jahre die englischen Island-Produktionen schmückte. Weil es auch noch jede Menge Überschneidungen und Abweichungen von der Regel gab, ist das wirklich eine Wissenschaft für sich, und ich möchte Sie nicht weiter langweilen. Da es für die drei Varianten des Pink-Labels mehrere verschiedene Bezeichnungen gibt, ist es ratsam, bei Internet-Käufen, bei denen keine aussagekräftigen Fotos vorhanden sind, noch einmal genau nachzufragen und gegebenenfalls zusätzliche Bilder anzufordern. Denn bei Island-Platten entscheidet mitunter das Labeldesign einer bestimmten Ausgabe darüber, ob das Taschengeld ausreicht, oder ob man das Ersparte angreifen muß.

 

Five Leaves Left“ bildet da keine Ausnahme. Wobei die Entwicklung interessant ist, die die Platte in ihrer preislichen Beurteilung genommen hat. Der Zusammenhang mit dem zunehmenden Interesse an Nick Drake ist dabei augenfällig. Und irgendwann entwickelt so eine Rarität dann ihre Eigendynamik. Im Record Collector, einer Fachzeitschrift, deren Einfluß zumindest auf die englische Sammlerszene gar nicht überschätzt werden kann, wurde noch 1992 der Wert einer neuwertigen Erstausgabe mit £15 taxiert. Im „Rare Record Price Guide 2000“, der 1999 noch vor dem VW-Werbespot zusammengestellt wurde, lag der veranschlagte Preis bei £80. In entsprechenden Publikationen der Jahre 2007 und 2010 war man bereits bei £350 angekommen. Ende des Jahres 2010 stand dann erstmals der Sprung in die Liste der „200 rarest records“ an. £800 reichten immerhin für Rang 181. 2012 wurde dieser Preis nochmals bestätigt. Selbst für mäßig erhaltene Exemplare sind noch Beträge im mittleren dreistelligen Bereich fällig. Und obwohl wir hier von England reden, wo man in dieser Hinsicht gern etwas dick aufträgt, bewegen sich die genannten Werte ausnahmsweise recht nah an der Realität. Ob sich nun der Record Collector am Markt orientiert hat, oder der sich an den Zahlen aus dem Record Collector, darf ausgiebig spekuliert werden.

 

Dank der Voraussicht von Joe Boyd und Chris Blackwell sowie der steigenden Nachfrage der letzten 15 Jahre sind jedoch Alternativen reichlich vorhanden. Bereits 1972 wurde die Platte erneut aufgelegt, jetzt mit Pink-Rim-Label, aber immer noch im fehlerhaften Klappcover. Auch diese Scheibe ist heute nicht ganz billig. Das älteste Exemplar meiner Sammlung hat ebenfalls noch dieses Label, allerdings wirkt es etwas blaß. Auch beim Cover wurde gespart. Es ist nur noch einfach. Der Fehler in der Songreihenfolge findet sich jetzt nicht nur auf der Rückseite, sondern auch auf dem Label. Da dieses bis 1975 verwendet wurde, datiere ich meine Platte jetzt einfach mal in jenes Jahr. Wenn man den glücklichen Besitzern Glauben schenken darf, so klingt die Original-Pressung phantastisch. Da muß man hier schon einige Abstriche machen. Aber analoge Tugenden sind durchaus noch vorhanden. 

(Inzwischen bin ich leider zu der Überzeugung gelangt, daß es sich bei der Platte um ein Counterfeit, also eine, wenn auch gut gemachte Fälschung handelt.)

 

1979 packte Island erstmals alle drei LPs in eine Box und nannte sie „Fruit Tree“ (NDSP 100). Die Platten hatten keine Originalcover und hießen nur „1“, „2“ und „3“. Dafür gab es am Ende von „Pink Moon“ (also „3“) drei Bonustracks. 1986 wiederholte Joe Boyd diese Zusammenstellung für sein eigenes Label Hannibal Records (HNBX 5302). Diesmal gab es zwar die originalen Hüllen, aber aus sehr dünnem Papier. Dafür bestand die Zugabe gleich aus einer ganzen LP mit unveröffentlichten Aufnahmen („Time Of No Reply“). 2007 letztendlich erschien eine dritte „Fruit Tree“-Box (Universal/Island), die nun auch Wert auf eine gelungene Reproduktion der Cover legte. Als Beilage gab es eine DVD mit der wunderbaren Dokumentation „A Skin Too Few“ sowie ein Büchlein mit informativen Interviews mit Boyd, John Wood und Robert Kirby. „Five Leaves Left“ kommt im Klappcover und mit einem hübschen Versuch, das Block-Label zu imitieren. Das 24-Bit-Mastering ist sehr gelungen. So macht diese Platte wirklich Spaß. Nur paßt die Rubrik „bezahlbare Alternativen“ nicht wirklich. Die Box war auf 2000 Stück limitiert und in kürzester Zeit ausverkauft.

 

2013 legte Universal eine Einzelausgabe mit 180 Gramm vor, die in einer stabilen Box mit Poster und allerlei Schnickschnack ausgestattet wurde. Ist das Klappcover noch gelungen, wirkt der Versuch, eine zeitgemäße Innenhülle nachzuempfinden, recht amateurhaft. Das Block-Logo ist einfach nur eine Frechheit. War die Farbe ausgegangen? Dafür sparte man nicht an Bass und Hall. Es dröhnt gelegentlich recht unfein. Kurz darauf gab es die Scheibe dann auch in der „Back To Black“-Reihe in abgespeckter Form und zu einem etwas günstigeren Preis. Da einen der Download-Code der Box-Edition direkt auf die „Back To Black“-Website führt, gehe ich davon aus, daß die Platten identisch sind.

 

Nun war ich fast so verzweifelt, daß ich Ihnen als vernünftigste Alternative, weil mit dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis aufwartend, die 2000er CD-Version (Island IMCD 8/ 842 915-2) empfohlen hätte (aber nur die, die meisten anderen sind schlicht Schrott). Sie verwendet das selbe Mastering wie die 2007er „Fruit Tree“-Box. Aber Rettung kam aus einer Ecke, aus der ich sie nicht erwartet hätte. Nämlich vom eher ungeliebten Reissue-Spezialisten Simply Vinyl aus London. Der legte seine Version im Jahr 2000 vor, und landete tatsächlich einen Volltreffer! So will ich diese Platte hören, warm, natürlich, raumfüllend. Da läßt sich sogar ein gelegentlicher Hang hin zum Übersteuern verschmerzen. Und sie kostet halt nicht die Welt (sofern man nicht gleich den ersten Haken schluckt, der in die Bay gehalten wird). Nehmen Sie es als Geheimtipp (SVLP 163). Irgendwann müssen Sie sich sowieso entscheiden, denn an dieser Platte kommt man nicht ewig vorbei.

 

I know you. I love you. I can be your friend. I would follow you anywhere. Even through solid air.“ („Solid Air“, John Martyn für Nick Drake, 1973)

 

Musik: 8,5

Klang: 7,5 (England, 1975)

Klang: 8,5 (England, 2000)

Klang: 8,5 (England, 2007)

Klang: 7,0 (England, 2013)

 

Ronald Born, Oktober 2014