Karat – Über sieben Brücken (1979)


Daß der sogenannte „Ost-Rock“ nicht mein Ding ist, dürfte kein Geheimnis mehr sein. Warum dann hier diese Platte? Um diesbezüglicher Vorfreude gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen: sicher nicht, um sie zu „schlachten“! Die zweite Karat-LP war eine der ersten Langspielplatten, die mir meine Eltern schenkten. 16,10 Mark waren auch für sie kein Pappenstiel. Und ich ließ die Scheibe damals auf einem alten Plattenspieler rauf und runter laufen (was sie erstaunlich gut verkraftet hat). Nun ist das aber mehr als 35 Jahre her, und als ich sie neulich mal wieder in die Finger bekam, war ich ausgesprochen neugierig, was wohl von der alten Faszination übrig geblieben sein mochte.


Die Wurzeln von Karat liegen in den frühen 1970er Jahren. Henning Protzmann, Ulrich Swillms und Herbert Dreilich, die schon bei den Alexanders zusammen gespielt hatten (nachdem Dreilich 1968 kurzzeitig den Puhdys angehörte), gründeten 1971 mit diversen anderen Musikern (darunter Veronika Fischer) die Band Panta Rhei, die mit satten Bläserarrangements und raffinierten Kompositionen Jazz, Blues und Rock sehr einfallsreich mischte. Für die eher liedhaften Passagen war Dreilich zuständig. Das gleichnamige Album aus dem Jahr 1973 gehört zum Besten, was die Rockmusik der DDR hervorgebracht hat. Schon das 1972 von Herbert Dreilich geschriebene Stück „Tuyet“ (auf „hallo Nr.5“) hätte den internationalen Vergleich nicht scheuen müssen. Leider hatte man aber mit Veronika Fischer eine Sängerin an Bord, die einfach dafür prädestiniert war, als Frontfrau einer eigenen Band vorzustehen. Als dann auch noch die Bläser gingen, war das Ende besiegelt. Protzmann konnte seine alten Gefährten schnell für ein neues Projekt gewinnen, das er bereits mit Sänger Hans-Joachim Neumann sowie einem Gitarristen und einem Schlagzeuger angeschoben hatte, die beide nach mehreren Rundfunkaufnahmen im Sommer 1976 durch Bernd Römer und Michael Schwandt (beide aus der Talentschmiede von Horst Krüger) ersetzt wurden. Karat war vollzählig. Es folgten weitere Aufnahmen für das Radio und Preise bei den üblichen „Leistungsschauen“. Im Herbst 1978 trat man ohne Berührungsängste beim Internationalen Schlagerfestival in Dresden auf. In diesem Rahmen war gegen „König der Welt“ und „Über sieben Brücken mußt du gehn“ kein Kraut gewachsen. Man gewann den Grand Prix, und endlich erkannte auch Amiga das Potential der Band.


Das verwundert schon etwas, denn nach hinteren Platzierungen 1975 fanden sich bereits 1976 drei Karat-Titel unter den ersten zehn der Jahreshitparade. Dazu muß gesagt werden, daß es in der DDR keine Verkaufshitparaden westlicher Prägung gab. Denn längst nicht alles, was im Radio lief, gab es auch in den Rundfunkläden zu kaufen. Polyvinylchlorid war schließlich ein Werkstoff, der Devisen erforderte. Und die waren ständig knapp. Selbst wenn also ein Titel die staatliche Zensur unbeanstandet passiert hatte, hieß das noch lange nicht, daß er auch auf Platte gepresst werden konnte. Das war im Prinzip eine Auszeichnung. Und so blieb es häufig dem Rundfunk, der über eigene, gut ausgestattete Tonstudios verfügte, vorbehalten, für Verbreitung zu sorgen. Zur Ermittlung einer Bestenliste wurden dann regelmäßig Hörerumfragen gestartet. Immerhin hatte Amiga 1975/76 zwei Singles von Karat veröffentlicht, aber erst nach oben erwähntem Auftritt in Dresden war der Weg für eine erste LP frei. Die erschien noch 1978, eilig mit Rundfunkproduktionen der letzten Jahre aufgefüllt. „Neumi“ Neumann gehörte da schon nicht mehr zur Band, weil er zum Wehrdienst eingezogen worden war. Er gründete dann 1979 Neumis Rock Circus, wo er sein komödiantisches Talent weiter auslebte, eine erfolgreiche LP herausbrachte und 1983 der DDR den Rücken kehrte, kurz nachdem ich die Band live gesehen hatte.


1979 war also Herbert Dreilich der unumstrittene Leadsänger von Karat und ein wichtiger Textlieferant. Hatte man in den zurückliegenden Jahren noch häufig mit Burkhard Lasch und Kurt Demmler gearbeitet, begann mit „Über sieben Brücken“ die jahrelange Kooperation mit Norbert Kaiser (eigentlich Historiker und Journalist). Die meisten Texte der ersten Seite stammten von Dreilich, die der zweiten von Kaiser. Die vielbeschworene Alltagspoesie in der Rock- und Popmusik der DDR fehlt hier jedoch fast gänzlich. Während Dreilich noch recht bodenständig nach passenden Reimen sucht („He, Mama“), versucht Kaiser zu beweisen, daß er seine Hausaufgaben gemacht hat und ein wahrer Dichter ist. In Verbindung mit Musik mag das bei „Gewitterregen“ noch angehen, aber bei „Albatros“ und „Wenn das Schweigen bricht“ sind auch „Ed“ Swillms' verschwenderische Kompositionen nicht mehr in der Lage, noch irgendwas zu retten. Lesen Sie sich diese Texte mal laut vor. Wetten, daß das nicht gelingt, ohne rot zu werden? Wenn dann Dreilich und Kaiser ausnahmsweise gemeinsam Verse schmiedeten („Wilder Mohn“), steht man peinlich berührt vor hormongesteuerter Pubertätsprosa. Schade, denn musikalisch wird auf der Platte allerhand geboten. Es gibt Bluesanleihen, einen Reggae, etwas heftigeren Rock mit simplen aber griffigen Riffs und natürlich ausgesprochen melodische, fett arrangierte Passagen. Mit „Musik zu einem nicht existierenden Film“ findet sich sogar ein sehr gelungenes Instrumentalstück. Die damals hierzulande häufig anzutreffenden Anleihen bei der Klassik erklären sich unter anderem dadurch, daß zumindest für eine Laufbahn als Profimusiker eine abgeschlossene musikalische Ausbildung verlangt wurde. Protzmann (Kontrabass) und Swillms (Cello, Klavier, Theorie und Musikgeschichte) zum Beispiel hatten in den 1960er Jahren an renommierten Hochschulen studiert. Gleich mehrere Seelen wohnten, ach, in der Brust dieser Kapelle!


Die lassen sich dann auch ganz gut an meinen drei Lieblingsnummern der Platte festmachen. Da wäre zuerst Dreilichs Miniatur „Das, was ich will“, ein schlichtes, feines Folk-Stück, das nur leider, ganz entgegen damaliger Gewohnheiten, viel zu kurz geraten ist. Auf Seite 2 folgt mit „Gewitterregen“ einer der besten Songs in Karats gesamter Karriere. Der Reggaerhythmus mit getupften Keyboardtönen, die exotisch anmutende zwölfsaitige Gitarre, der krachende Refrain sind unwiderstehlich. Der Übergang zu „Albatros“ erfolgt praktisch nahtlos. Acht Minuten Größenwahn, der keinen Moment langweilig wird! Nicht nur Komponist Swillms durfte sich hier austoben, auch Michael Schwandt am Schlagzeug wird von der Kette gelassen. Und mit der Kraft und Emphase, mit der Herbert Dreilich hier singt, hätte man ihm sogar noch weit größeren Blödsinn abgenommen.

Sie vermissen in meiner Aufzählung den Titelsong? Der beschließt zwar die Platte, existierte aber schon zu einer Zeit, als an diese noch gar nicht zu denken war. Bei der Verfilmung der Liebesgeschichte „Über sieben Brücken mußt du gehn“ von Helmut Richter kam die Idee auf, den für die Filmmusik engagierten Ulrich Swillms mit der Komposition eines Liedes zu beauftragen. Richter schrieb den Text, und Swillms brauchte zwei Wochen, bis ihm dazu etwas Passendes einfiel. Am 30. April 1978 lief der Streifen erstmals im Fernsehen, mit mir als Zeitzeugen. Das Lied faszinierte mich genauso, wie die im Film enthaltene Nacktszene. Ich war 13, was als Erklärung für beides genügen sollte. Ob die Single mit dem aufgedruckten Hinweis „Aus dem gleichnamigen Fernsehfilm“ (und „Rock-Vogel“ auf der B-Seite) noch vor der Präsentation des Songs zum Festival in Dresden erschien, oder erst danach, kann ich nicht sagen. Jedenfalls schaffte es das Stück in der Jahreshitparade noch auf den zweiten Platz, gleich hinter „König der Welt“. Inzwischen habe ich es einfach zu oft gehört (hören müssen), um mich noch unvoreingenommen dazu äußern zu können. Was bleibt, ist eine gelungene Melodie und ein Text, den ich auswendig kenne, und bei dem allein schon das Bild vom Schaukelpferd länger hängen bleibt, als Norbert Kaisers gesamtes Geschwurbel. Das wurde übrigens auf „Schwanenkönig“ (1980) noch kitschiger. Karat steuerte in immer seichtere Gewässer, ich fühlte mich schon bald zu alt dafür und entdeckte mit Karussell eine Band, die mir musikalisch und textlich wirklich etwas zu sagen hatte. Vor ein paar Jahren spielten Karat (nun mit Dreilichs Sohn als Sänger) ihren größten Hit zusammen mit Chris de Burgh bei Carmen Nebel. Dort paßte er inzwischen sogar ganz gut hin. Wer dadurch seine nostalgischen Gefühle verletzt sah, hatte vom Wort „Showgeschäft“ zumindest den zweiten Teil nicht verstanden.


Natürlich komme ich hier um die Erwähnung Peter Maffays nicht herum. Der hatte den Song 1980 für sein Album „Revanche“ neu eingespielt und gegen Ende des Jahres bis auf Platz 4 der Single-Charts geführt. In der DDR wurde dieser Fakt seitdem genauso gebetsmühlenartig erwähnt, wie die Goldene Schallplatte für City in Griechenland oder Tourneen von einheimischen Künstlern durch „die BRD und Westberlin“ (Letzteres sogar in den liner notes zur hier verhandelten LP). Deutlicher konnte man die schon krankhafte Sucht nach Anerkennung aus dem Westen nicht demonstrieren. „Seht her, was sogar die kaufen, kann so schlecht nicht sein!“, auch wenn man das niemals so formuliert oder gar zugegeben hätte.

Im Herbst 1979 erschien das Album dann unter dem Titel „Albatros“ (mit „König der Welt“ anstelle von „He, Mama“) auch in der Bundesrepublik (Pool 6.24078). Und diese Platte (wenn auch in der „Club Edition“, was aber keine Rolle spielt), die 1984 für 250.000 verkaufte Exemplare vergoldet wurde, habe ich mir kürzlich zugelegt, weil ich einfach wissen wollte, ob auch auf ihr die klanglichen „Eigenheiten“ der Amiga-Ausgabe zu finden sind. Lege ich nämlich mein Original (blaue Labels wurden erst bei Nachauflagen verwendet) auf, versinkt der Gesang schon bei „He, Mama“ im Chaos. Der ist so katastrophal aufgenommen und platziert, daß man nur mit großen Anstrengungen überhaupt etwas versteht. Während die Begleitung noch ganz passabel rüberkommt, setzt sich dieses Manko bei den meisten Stücken fort. Ich erinnere mich an einen Schulfreund, der damals der festen Überzeugung war, Karat würde neuerdings auf Englisch singen. Als Beleg führte er „Wenn das Schweigen bricht“ an, wo er anstatt „Oh, trink den Brunnen...“ „Oh, take the woman...“ zu vernehmen glaubte! Auch nicht schlecht. Produzent war seinerzeit Jürgen Lahrtz, der schon für die Theo-Schumann-Combo, Frank Schöbel oder Manfred Krug gearbeitet hatte. Ihm als Toningenieur zur Seite stand mit Helmar Federowski ein weiterer alter Hase. Auch „Schwanenkönig“ wurde dann von den beiden Profis produziert. An Herbert Dreilichs Stelle hätte ich auch dort mein Veto eingelegt, vor allem, wenn man sich anhört, wie gut er auf der von Volkmar Andrä produzierten Panta Rhei-LP (Amiga 8 55 318) noch klang.

Ich nehme an, daß man der Teldec in Hamburg, wo die Ausgabe für die BRD hergestellt wurde, das fertige Masterband oder gar nur eine Kopie zur Verfügung stellte. Mehr als etwas Kosmetik war da nicht möglich. Die eigentlichen Probleme blieben. Zur Covergestaltung sage ich lieber gar nichts. Die ist bei beiden LPs unterirdisch.

Wenn es Sie interessiert, was die Herren Swillms, Protzmann und Dreilich wirklich drauf hatten, noch dazu in auch klanglich wesentlich überzeugenderer Art und Weise, besorgen Sie sich „Panta Rhei“! In England zum Beispiel weiß man das schon seit ein paar Jahren.


Abschließend noch ein Wort zur heute viel gescholtenen „Staatsnähe“ von Karat und Co. Wer die allen Ernstes anprangert, verrät seine Unkenntnis der damaligen Verhältnisse. Wollte man (mit)spielen, mußte man sich an gewisse Regeln halten. Die waren mal strenger, mal etwas lockerer, je nach „politischer Großwetterlage“. Auch die vermeintliche Narrenfreiheit der künstlerischen Aushängeschilder der DDR hatte ihre Grenzen. Eine gewisse künstlerische Freiheit war nicht ohne Zugeständnisse zu haben. So gehörten Auftritte bei politisch vereinnahmten Großveranstaltungen (Weltfestspiele, Rock für den Frieden) genauso zum Deal, wie gemeinsame, öffentlichkeitswirksame Termine mit der Politprominenz (Honecker überreichte Karat den Nationalpreis der DDR höchstpersönlich). Das wußten und akzeptierten alle, bevor sie ihren Hut in den Ring warfen. Den Fehdehandschuh behielt man besser in der Tasche, wollte man hier als Künstler (Sportler, Wissenschaftler...) überleben. Ein Berufsverbot oder gar die Ausweisung hätten vielleicht der Reputation, aber ganz bestimmt nicht den Musikern und ihrem treuen Publikum gedient. Daß man sich dabei nicht komplett verbiegen oder gar sein Gehirn abgeben mußte, zeigen diverse Beispiele. Um diesen jahrelangen Drahtseilakt beneide ich die Männer von Karat, trotz aller Privilegien, die sie genossen, bestimmt nicht.


Musik: 7,0

Klang: 6,0 (DDR, 1979)

Klang: 6,5 (BRD, 1979)


Ronald Born, Januar 2015