Jethro Tull – Aqualung (1971)

 

Müßte ich mich unbedingt für eine Schublade entscheiden, würde ich weder Blues-, noch Progressive- oder Hard-Rock nehmen. Für mich war und ist „Aqualung“ eher ein Folkrock-Album. Natürlich hinterlassen die bluesigen Einflüsse der ersten beiden LPs sowie die härtere Gangart von „Benefit“ auch hier ihre Spuren. Nur werden diese immer wieder verwischt von einer verstärkt akustischen Instrumentierung und Songs mit deutlich (volks) liedhafter Struktur. Die von Ian Anderson erwähnte Inspiration durch Bert Jansch und Roy Harper ist nicht zu überhören.

Die Texte kreisen um Gott und Religion, etwas seltsame Typen vom äußeren Rand der Gesellschaft und persönliche Reflexionen. Das Titelstück ist das einzige, dessen Text nicht von Anderson allein stammt. Seine damalige Frau Jennie kam von einem Ausflug an die Themse zurück, wo sie Fotos von Obdachlosen gemacht hatte. Einer der Abgelichteten war eine so beeindruckende Erscheinung, daß Jennie sich einige Zeilen notiert hatte. Anderson, der wohl froh darüber war, ein gemeinsames Thema gefunden zu haben, ermunterte sie daraufhin, mit ihm zusammen einen Text zu schreiben. Später diente der Typ auf dem Foto auch als Vorlage für das Plattencover. Seine Ähnlichkeit mit Ian Anderson war ursprünglich nicht so ins Auge fallend, wie auf Burton Silvermans Portrait, das bewußt damit kokettierte. Anderson selbst hat es immer bereut, seine Zustimmung zur Verwendung des Bildes als Covermotiv gegeben zu haben.

Nun ist Jethro Tull zwar keine One-Man-Band, aber mit Sicherheit eine der wenigen, deren Existenz von einem einzigen Namen abhängt. Ohne Anderson kein Jethro Tull. Das hat den Vorteil, daß uns mittelmäßige Reinkarnationen auf Stadtfesten, in Bierzelten und dümmlichen Chart-Shows für immer erspart bleiben werden.

 

Zur Zeit der „Aqualung“-Aufnahmen (Dezember 1970 bis Februar 1971) hatte Ian Anderson einen Stamm von Musikern beisammen, der für die nächsten fünf Jahre Bestand haben sollte. Für seine Verhältnisse war das ein sehr langer Zeitraum. Nur Schlagzeuger Clive Bunker wurde noch durch Barriemore Barlow ersetzt, der „Rest“ hielt mindestens bis „Minstrel In The Gallery“ durch. Mit Gitarrist Martin Barre war bereits ab dem zweiten Album eine bis heute bestehende Konstante im Bandgefüge gefunden worden. Nach dem Ausstieg von Gründungsmitglied Mick Abrahams, der lieber weiter erdigen Blues-Rock spielen wollte, wurden verschiedene Gitarristen ausprobiert. Tony Iommi, der später mit Black Sabbath zu Ruhm und Ehre kommen sollte, begleitete Jethro Tull im Dezember 1968 bei der (bis auf den Gesang) Playback-Performance im Rahmen des „Rolling Stones Rock And Roll Circus“ und verschwand dann wieder. Steve Howe (später Yes) verpasste gar den Termin zum Vorspielen.

Pianist John Evan, der bereits 1962 gemeinsam mit Anderson bei den Blades gespielt hatte, war seit April 1970 an Bord, Bassist Jeffrey Hammond, ebenfalls ein Mitstreiter aus frühesten Tagen, ersetzte im Dezember Glenn Cornick. Auf Plattenhüllen und bei der Vorstellung der Band bei Konzerten wurde er häufig als Jeffrey Hammond-Hammond bezeichnet. Dieser kleine Scherz bezieht sich auf den Umstand, daß sowohl der Nachname seines Vaters als auch der Mädchenname seiner Mutter Hammond war. Nein, beide waren nicht verwandt!

Man zog also in die neu eröffneten Studios von Island Records, eingerichtet in einer ehemaligen Kirche in Londons Basing Street. Ian Anderson erinnerte sich später an enorme Probleme, die der große, kühle und ungewollte Echos erzeugende Raum mit sich brachte. Auch die Positionierung der Monitore gestaltete sich schwierig. Hätte man besser den zweiten, etwas kleineren Aufnahmeraum wählen sollen? Doch dort arbeiteten gerade Led Zeppelin an ihrem vierten Album! Also mußte man sich irgendwie arrangieren und die aufwendige wie langwierige Nachbearbeitung der Bänder in Kauf nehmen.

 

Nachdem drei der letzten vier in England veröffentlichten Singles mühelos die Top-Ten erreicht hatten, erscheint es um so unverständlicher, daß man von „Aqualung“ im Mutterland keinen einzigen Titel auskoppelte. In den USA kämpfte sich immerhin „Hymn 43 / Mother Goose“ auf Platz 91. Stellen Sie sich vor, Sie hören das Album zum ersten Mal. Wären diese beiden Stücke dann auch Ihre erste Wahl? Ungeachtet dessen spielten die Radiostationen im Frühjahr 1971 „Cross-Eyed Mary“, „Aqualung“ und „Locomotive Breath“ rauf und runter, so daß die LP in England auf den vierten und in den USA auf den siebten Platz der Charts kletterte. In Deutschland, Frankreich, Holland oder Italien waren die beiden letztgenannten Nummern übrigens, in unterschiedlichen Kopplungen, sehr wohl auch auf Singles erhältlich.

Durch die zusätzliche Betitelung der beiden Plattenseiten mit „Aqualung“ bzw. „My God“, einen scheinbar religiösen Klappentext sowie diesbezügliche Textpassagen und ein Plattencover, das zu Spekulationen förmlich einlud, bekam die LP ziemlich schnell das Etikett „Konzeptalbum“ verpasst. Das war damals durchaus nicht geschäftsschädigend! Nur, es war kein Konzept zu erkennen. Ian Anderson nannte die Platte später „nur eine Ansammlung von Songs“ und fragte mit einiger Berechtigung, wie man denn den Nachfolger „Thick As A Brick“ bezeichnen wolle, wenn schon „Aqualung“ ein Konzeptalbum sei.

Unabhängig davon hat die Platte wohl mehr Songs, die zu echten Klassikern werden sollten, aufzuweisen, als jede andere der Band. Und die bilden nach wie vor das Rückgrat von so ziemlich jedem der zahllosen Konzerte. Mit „Cheap Day Return“, „Wond'ring Aloud“ und „Slipstream“ gibt es zudem akustische Kleinode, wie man sie bis dahin von Jethro Tull noch kaum gehört hatte, die aber fortan willkommene Tradition werden sollten. Die sehr dezent eingesetzten Streicher wurden von David Palmer arrangiert, der wohl bis heute selbst nicht so richtig weiß, wann genau er festes Band-Mitglied und wann lediglich Gast war.

 

Kennen Sie eigentlich D.A. Pennebakers Dokumentarfilm „Don't Look Back“? Darin ist eine Szene enthalten, die am 6. Mai 1965 Backstage in der City Hall von Newcastle aufgenommen wurde. Ein „Science Student“ versucht dort, mit Bob Dylan ein Interview zu führen. Ein nicht ganz einfaches Unterfangen, wie wir wissen. Alan Price von den Animals sitzt im Hintergrund am Klavier und amüsiert sich ganz offensichtlich. Der junge Student mit der Hornbrille heißt Terry Ellis, damals als angehender Musikjournalist für die Uni-Zeitung tätig. Gemeinsam mit Chris White sollte er zwei Jahre später eine Künstleragentur eröffnen und ab 1968 als Manager von Jethro Tull auftreten, während White sich um Ten Years After und Procol Harum kümmerte. Er produzierte die frühen LPs seiner neuen Schützlinge und gründete gemeinsam mit seinem Partner Chrysalis Records. Der Name basierte einerseits auf einem Wortspiel mit Chris und Ellis, bezog sich aber auch auf ein Stadium bei der Verpuppung von Schmetterlingen. Daher also das Logo. Ein Lizenzabkommen mit Island Records regelte den Vertrieb und gestattete den Zugriff auf deren Know-how.

 

Fragt man fünf Leute, die mehrere unterschiedliche Pressungen von „Aqualung“ ihr Eigen nennen, bekommt man zu deren klanglichen Qualitäten garantiert fünf verschiedene, teils völlig konträre Aussagen. Die oben bereits angesprochenen Probleme bei der Produktion mögen eine Ursache dafür sein, daß das englische Original, das fast zeitgleich sowohl mit Islands Pink-Rim-Label (heute selten und teuer), als auch mit dem grünen Chrysalis-Label (und einem weißen „i“ in Zwölf-Uhr-Position) erschien, von vielen als unbefriedigend, flach und mit viel zu wenig Bass versehen empfunden wird. Beide verwendeten übrigens dieselbe Katalognummer (ILPS 9145). Die MFSL-Ausgabe von 1981 (1-061) wiederum wird sehr gelobt, von anderen jedoch wegen des exzessiven Einsatzes von Equalizern und des daraus resultierenden unnatürlichen Sounds gescholten. 1997 widmete sich dann Steve Hoffman den (angeblich aus Andersons Privatbesitz stammenden) Masterbändern. Sein, mit Röhrentechnik bewerkstelligtes Remastering für DCC (LPZ-2030) wird wegen des warmen und natürlichen Klangs geschätzt. Allerdings ist diese Platte inzwischen sehr teuer. Keines dieser drei Exemplare ist in meinem Besitz, ich muß also auf andere Ausgaben zurückgreifen. Da wäre zuerst die deutsche Erstausgabe. Obwohl in England schon seit mehreren Monaten abgelöst, erschien die Platte hier noch mit einem pinkfarbenen Label. Der Vertrieb von Island-Platten lief damals über Philips, was die siebenstellige Katalognummer (6339 035) erklärt. Etwa ein Jahr später übernahm dann Ariola, so daß die erste Nachauflage von „Aqualung“ in Deutschland nicht nur mit Pink-Rim-Label sondern auch neuer Nummer (85 383 IT) herauskam. Meine Pressung klingt so, wie ich mir auch, basierend auf diversen Beschreibungen, die englische vorstelle: nicht eben detailverliebt und in den tieferen Regionen stark unterrepräsentiert.

2007 kommen Ian Andersons Bänder wieder ins Gespräch (EMI/Classic Records ILPS 9145). Diesmal ist es Chris Bellman von Bernie Grundman Mastering, der sich ihrer annimmt. Bellman hatte sich 2004 mit dem Remastering für Neil Youngs „Greatest Hits“ schon ein Denkmal gesetzt. Doch offensichtlich war das Ausgangsmaterial diesmal weit weniger erstklassig. Der Bass ist kaum präsenter, nur etwas präziser. Jedoch werden deutlich mehr Details hörbar. Eine Offenbarung ist das, trotz Classic Records' hauseigenem Quiex-Vinyl mit (fast) 200 Gramm, jedoch immer noch nicht.

40 Jahre nach dem Erscheinen von „Aqualung“ entschied die EMI, zu der Chrysalis schon seit vielen Jahren gehörte, ein opulentes Jubiläumspaket zu schnüren. Neben zwei CDs und Audio-DVD und -Blue-Ray gehörte dazu auch eine, als 180-Gramm-Pressung ausgewiesene, LP, die bei mir sogar 191 Gramm auf die Waage bringt (EMI/Chrysalis AQUA 1). Mit Andersons ausdrücklicher Genehmigung hatte Steven Wilson (Porcupine Tree u.a.), der beim Erscheinen von „Aqualung“ ganze vier Jahre alt war, die Platte nicht nur remastert, sondern auch einen Remix gefertigt. Was genau er dabei getan hat, sei einmal dahin gestellt. Das leidige Thema Bass ist auch hier noch nicht ganz vom Tisch, und alle drei mir vorliegende Versionen sind nicht frei von Grundrauschen. Bei den eher akustischen Stücken sind die Vorzüge der neuesten Ausgabe nicht ganz so augenfällig, bei den Rockern geht es jedoch wesentlich zupackender zur Sache. Das Frequenzspektrum wirkt deutlich erweitert, alles scheint wesentlich transparenter. Die Platte atmet hörbar durch. Meine Empfehlung kommt nur leider nicht ohne Einschränkung aus. Da ich auf die CDs und DVDs gut verzichten kann, und außerdem der Preis der „40th Anniversary Special Edition“ nicht in mein Budget paßt, mußte ich nur noch jemanden finden, der keine Skrupel hatte, seine LP einzeln zu veräußern. Das gelang letztendlich, offenbarte jedoch, daß es für mehr als eine gefütterte schwarze Innenhülle nicht mehr gereicht hatte. Die Platte besitzt also kein separates Cover! Das ändert aber nichts daran, daß ich zur Zeit genau diese Scheibe aus dem Regal ziehe, wenn ich mir „Aqualung“ anhören will.

 

Nachtrag: Seit Mai 2015 gibt es den Steven-Wilson-Remix endlich auch als separate LP mit Klappcover und fettem Booklet. Die Katalognummer ist identisch mit der 2011er Version aus der Box (AQUA 1). Nur das Label sieht etwas anders aus. Zugreifen!

 

Musik: 9,0

Klang: 7,0 (Deutschland, 1971)

Klang: 7,5 (USA, 2007)

Klang: 8,5 (Europa, 2011)

 

Ronald Born, August 2013