Harry Belafonte – The Midnight Special (1962)
Harry Belafonte war bereits der „King of Calypso“, als er am 19. und 20. April 1959 zwei Benefiz-Konzerte in der New Yorker Carnegie Hall gab, das erste zur Unterstützung der New Lincoln School, das zweite für die Wiltwyck School. Die Aufnahmen erschienen im Oktober desselben Jahres als „Belafonte At Carnegie Hall“ (RCA Victor LOC-6006 bzw. LSO-6006). Ein Jahr später folgte „Belafonte Returns To Carnegie Hall“ (RCA Victor LOC-6007 bzw. LSO-6007), auf dem er Odetta, Miriam Makeba und das Chad Mitchell Trio als Gäste begrüßte. Beide Doppelalben erreichten jeweils Platz 3 der US-Charts und sind heute unter audiophilen Sammlern wegen ihrer überragenden Aufnahmen Legende. Die Original-Pressungen sind entsprechend teuer, werden aber inzwischen von den verschiedenen Neuauflagen von Classic Records (unterschiedliches Vinyl, 33 bzw. 45 RPM) preislich noch getoppt. Wer sich dennoch dafür interessiert, sollte sich nach den Boxen in der deutschen „Portrait in Gold“-Reihe umsehen. Das erste Album wurde dort 1973 als „Harry Belafonte Live In Concert At The Carnegie Hall“ (RCA Victor SR 6006/ 1-2), das zweite bereits 1972 als „Harry Belafonte Live!“ (RCA Victor SR 6007/ 1-2) herausgegeben. Beide klingen recht ordentlich und sind sehr günstig zu haben.
Aber warum nun „The Midnight Special“ und nicht eine der Live-LPs? Diese zeigen Belafonte in absoluter Top-Form als Sänger und Entertainer, klingen brillant, sind aber für meinen Geschmack in Songauswahl wie Begleitung etwas bieder. Und dann gibt es natürlich noch einen weiteren Grund, warum die hier zu besprechende Platte gleich mehrfach in meiner Sammlung auftaucht. Der 20 jährige Bob Dylan spielt auf dem Titelstück Mundharmonika! Viele Jahre lang galt diese Aufnahme als seine erste professionelle Studioproduktion überhaupt und die LP als die erste, auf der er zu hören ist. Unter den Dylan-Experten war man sich lediglich über den genauen Zeitpunkt der Aufnahme (zwischen Juni und Dezember) uneinig. Das Jahr 1961 galt als gesetzt. Auch über das Datum der Veröffentlichung gibt es schwankende Angaben, allerdings nur von Februar bis März 1962. Als 2001 die Dylan-Tribute-CD (bzw. eine streng limitierte Box mit 10 Singles) „May Your Song Always Be Sung Again“ erschien (BMG 74321 84693 2/ 74321 86200 7), kam endlich Licht ins Dunkel. Auf dieser durch und durch gelungenen Zusammenstellung mit Interpretationen von Elvis bis Patti Smith findet sich eine alternative Version von „Midnight Special“ als exklusiver Bonus-Track. Dieser stammt vom Original-Band, das vorschriftsmäßig und korrekt beschriftet war: Webster Hall, New York City, 2. Februar 1962! Die zwei Sessions zu Dylans erstem Studioalbum fanden jedoch bereits am 20. und 22. November 1961 im Columbia Studio A statt. In jeweils drei Stunden spielte Dylan dort das gesamte Material ein, einige Songs waren schon nach dem ersten Versuch im Kasten. So wird verständlich, daß Dylan sich nach der Belafonte-Session recht genervt zeigte. Der erklärte Perfektionist Belafonte ließ ihn seinen Part mehrmals wiederholen. Auch schob man ihm ein Kissen unter den Fuß, mit dem er lautstark den Takt vorgab. Auf besagtem Band finden sich dann auch neben dem Album-Track und der Alternativ-Version keine weiteren kompletten Fassungen, nur mehrere abgebrochene Versuche.
Die Frage, welches Album nun eher erschien, läßt sich bis heute nicht endgültig klären. Dylans Debüt kam unzweifelhaft am 19. März 1962 in den Handel. Für das Belafonte-Album finde ich als früheste Erwähnung in den Billboard-Charts den 16. Juni (!) 1962, als es auf Platz 21 geführt wurde. Am 14. Juli erreichte es dann mit Platz 8 seine höchste Notierung. Klingt das nach einer Veröffentlichung im zeitigen Frühjahr? Belafonte war damals ein Superstar. Ich kann mir vorstellen, daß die Fans nach dem Vorgänger und Megaseller „Jump Up Calypso“ (1961) gierig auf neues Material warteten und zeitnah zugriffen. Auf der anderen Seite warf das Album keine Hit-Single ab, was eventuell für einen verzögerten Charterfolg sprechen könnte. Sei's drum.
Nun aber endlich zur Musik. Die Platte beginnt furios gleich mit dem besten Stück, eben „Midnight Special“. Das hat aber nichts mit Dylans Beitrag zu tun. Ich bin mir sicher, daß es damals zahlreiche andere Musiker gab, die den Harmonika-Part mindestens genauso gut hinbekommen hätten. Auf dieser Platte ist die Nummer als von Belafonte arrangiertes Traditional ausgewiesen. Bei anderen Aufnahmen des Songs wird auch gerne mal Leadbelly als Autor genannt, was aber wohl nicht stimmt. Bereits 1905 erschien eine gedruckte Textversion. Die frühesten bekannten Tonaufnahmen stammen aus dem Jahr 1925, die erste mit Leadbelly wurde 1934 im Angola Prison, Louisiana gemacht, natürlich von John und Alan Lomax. „Midnight Special“ ist übrigens der Name eines Personenzuges, und da macht sich eine Mundharmonika als „Dampflok“ oder einfach nur „train whistle“ bekanntlich immer gut. Im Internet wird gelegentlich geschrieben, daß die Harmonika im Mono-Mix mehr im Hintergrund bleibt. Das kann ich nicht bestätigen. Auf beiden Ausgaben ist sie in den Solo-Passagen gleichermaßen präsent. Als Begleitinstrument rückt sie dann jeweils zurück ins Glied.
Ich habe einmal gelesen, dies sei eine „demokratische Platte“. Und da ist was dran. Jeder der beteiligten Musiker, u.a. der Gitarrist Millard Thomas, der Belafonte seit dessen erstem Album zur Seite stand, bekommt sein Solo und fügt sich anschließend wieder nahtlos in das hervorragende Ensemble ein. Natürlich steht die sehr markante wie wandlungsfähige Stimme Belafontes im Vordergrund, aber sie drängt sich nicht dort hin und läßt sämtlichen Instrumenten genügend Luft zum Atmen. Das ist nicht nur demokratisch sondern auch sehr organisch. Bei der Songauswahl hätte es sich Harold George Bellanfanti, Jr. (so der richtige Name) einfach machen können. Ein bißchen „Banana Boat Song part 2“ hier, ein bißchen „Jamaica Farewell Revisited“ dort, und das alles bis zu den Knien in karibischem Flair. Aber das ließ wohl zum Glück sein künstlerischer Ehrgeiz (noch) nicht zu. Und so finden sich in Stücken wie „Memphis Tennessee“ (nicht zu verwechseln mit Chuck Berrys Hit), „Gotta Travel On“, „On Top Of Old Smokey“ oder dem großartigen „Makes A Long Time Man Feel Bad“ jede Menge Verweise auf Soul, Jazz, Blues und Gospel. Eine ähnlich gelungene Mixtur glänzte schon auf dem etwas irreführend betitelten „Belafonte Sings The Blues“ (1958), das bis heute eine enorme Wertschätzung genießt. Und hier wie dort greift er auch auf traditionelle (oder tief in der Tradition verwurzelte) Folksongs zurück. Ob er mit dem, ein Jahr zuvor mit den Highwaymen bereits zum Top-Hit avancierten „Michael Row The Boat Ashore“ zum Ausklang des Albums doch noch auf Nummer sicher gehen wollte, kann spekuliert werden. Da ist mir das auf Jimmie Rodgers zurückgehende „Muleskinner“ dann doch deutlich willkommener. Wenn Sie die Platte zur Hand haben, sollten Sie auch unbedingt mal in José Felicianos Interpretation (als „Mule Skinner Blues“ auf „José Feliciano Sings“, 1972) reinhören!
Ich wage zu behaupten, daß „The Midnight Special“ ohne Bob Dylans marginale Beteiligung heute so gut wie vergessen wäre. Sicherlich würde die Platte auch nicht in meinem Regal stehen. Und das wäre jammerschade! Die Scheibe hat jede Menge guter Songs, ausgefeilte und spannende Arrangements und einen mehr denn je charismatischen wie fesselnden Sänger zu bieten. Daß die Toningenieure von RCA Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre die besten ihrer Zunft waren, hatten sie unter anderem mit den beiden Live-Platten und „Belafonte Sings The Blues“ schon unter Beweis gestellt. Hier untermauern sie diese Einschätzung einfach nur. Produziert wurde das Album übrigens vom angesehenen Komponisten und Arrangeur Hugo Montenegro, der seinerseits 1970 mit „Dawn Of Dylan“ ein Tribute-Album veröffentlichte, das allerdings nicht zu den Highlights dieser Spezies gezählt werden kann. Damit schließt sich der Kreis dann fast. Mit etwas gutem Willen (oder zu viel Phantasie?) kann man die Refrainzeile „Shine your light, shine your light on me“ aus Dylans Song „Precious Angel“ („Slow Train Coming“, 1979) als kleine Referenz an „Midnight Special“ sehen. Etwas greifbarer wird es dann 1985, als Dylan und Belafonte noch einmal (wenn auch unter anderen Vorzeichen) gemeinsam auf einer Aufnahme zu hören waren: „We Are The World“ von USA For Africa.
Als 1972 in Europa eine Wiederveröffentlichung auf dem Billig-Label RCA Camden anstand, war nicht nur der Artikel verschwunden (die Platte hieß jetzt nur noch „Midnight Special“), sondern auch das wunderschöne Cover mußte einem weit schlichteren weichen. Die US-Ausgabe von 1977 (RCA ANL1-2324) hatte dann wiederum ein anderes Cover, der Artikel blieb verschollen. Und Bob Dylan wurde mit keiner Silbe mehr erwähnt. Genau diese LP stellt sich nun dem Vergleich mit der amerikanischen Original-Pressung (RCA Victor LSP-2449). Daß beide eigentlich in unterschiedlichen Gewichtsklassen starten müssten (158 Gramm beim Original, 111 Gramm beim Reissue, jeweils ohne Handschuhe), überrascht nicht. Eher schon der Hinweis auf der Coverrückseite: „Reissue produced by Ethel Gabriel“. Was hat diese Frau, eine Legende nicht nur bei RCA und erste weibliche Plattenproduzentin, gemacht? Nun, sie hat den Hallregler leicht nach oben geschoben und offensichtlich Belafontes Stimme etwas aufgehellt und weiter in den Vordergrund gestellt. Ob das in dessen Sinn war? Dadurch geht nämlich die Harmonie verloren, die doch einen Teil der Faszination dieser Platte ausmachte. Das liest sich jetzt dramatischer, als es wirklich klingt und wird vielleicht sogar Freunde finden. Bei allem, was man den Federgewichten von RCA in den 70ern so Böses nachsagt, klingt die mir vorliegende Platte erfreulich gut. Lediglich ein paar, beim Original bereits vorhandene Zischlaute beim Gesang sind hier noch deutlicher wahrzunehmen. Ansonsten gibt es kaum etwas zu meckern.
Auch wenn ich gerade hier einem kleinen Ausflug in die frühe „recording history“ Bob Dylans nicht widerstehen konnte, ist diese LP auch Leuten zu empfehlen, die mit diesem Herren sonst nichts am Hut haben. Für Belafonte war es aus meiner Sicht die letzte große Platte, und sie ist es in vielerlei Hinsicht wert, ab und an gehört zu werden.
Musik: 7,5
Klang: 7,5 (USA, 1962)
Klang: 7,0 (USA, 1977)
Ronald Born, Mai 2013