Esther Ofarim – Esther (1972)
Dieses legendäre Album hat ein paar kleine Mysterien zu bieten. Das beginnt schon beim Titel. Häufig findet man die Platte nämlich auch als „1. Album“ oder „1st Album“. Das liegt daran, daß im Inneren des Klappcovers in großen Lettern „Esther – Esther Ofarim 1. Album“ steht. Diskographisch ist das Blödsinn, da Esther schon vor, aber auch während der Zusammenarbeit mit Abi Ofarim Alben unter ihrem Namen veröffentlicht hat. Ich halte mich daran, was auf den Labels steht, nämlich „Esther“. Mir sind insgesamt lediglich vier verschiedene Ausgaben bekannt. Die erste ist natürlich das deutsche Original aus dem Jahr 1972 (HörZu SHZE 367). Partner von „HörZu“ war in diesem Fall die Electrola in Köln, die noch im gleichen Jahr mit der Carl Lindström GmbH zu EMI Electrola fusionieren sollte. Die in Deutschland ausgekoppelte Single „Kinderspiele / Pamparapam“ erschien auf dem blauen Columbia-Label (1C 006-05 236) schon mit EMI Electrola-Logo auf dem Cover. In Esthers Heimat Israel erschien die Platte dann auf dem CBS-Sublabel Portrait. Wie CBS an die Rechte gelangte, ist mir unverständlich. Noch unverständlicher ist mir, daß die Katalognummer SHZE 367 beibehalten wurde. Sie dürfen mir glauben, daß ich in meinem Leben schon viele CBS-Platten gesehen habe, aber noch nie war eine mit einer SHZE-Nummer darunter. Doch so ist es hier nun mal. Man liest als Veröffentlichungsdatum häufig 1972, was nicht stimmen kann, da Portrait erst 1976 gegründet wurde, ursprünglich als Epic-Ableger, der dann in CBS aufging. Gesichert ist hingegen, daß Audiotrade aus Mühlheim / Ruhr 1979 die Platte in Lizenz als ATR-Mastercut Recording erneut herausbrachte (ATR LP 001). 2012 legte dann First Impression Music (FIM) die Scheibe in einer 200 Gramm-Pressung und edler Box vor. Die Katalognummer ATR LP 01-R passt nicht in das firmeninterne Nummernsystem und läßt deutliche Rückschlüsse zur Quelle der verwendeten Aufnahme zu.
Das zweite Mysterium betrifft die Plattenseiten. Im Original beginnt die erste mit „La Vezina Catina“ und die zweite mit „Kinderspiele“. Bei der ATR-Ausgabe ist es genau umgekehrt. Ich weiß wirklich nicht, warum. Das Original-Cover wurde übrigens übernommen, nur auf der Rückseite wurde bei ATR nochmals das Frontphoto verwendet und leider auf den wunderschönen Schnappschuß von Frau Ofarim Barfuß in der Wüste verzichtet. Auch im Inneren des Covers blieb alles beim Alten, nur daß man eben die Titelangaben der Seiten austauschte. Zu einer Zeit, als es noch keine Computer mit graphischen Bearbeitungsprogrammen gab, muß das eine recht aufwendige Sache gewesen sein. FIM übernahm die ATR-Variante. Bei der israelischen Ausgabe wurde die Titelreihenfolge vom Original beibehalten. Da sie lediglich über ein einfaches Cover verfügt, wurden die Songs auf der Rückseite abgedruckt, allerdings die der zweiten Seite links, die der ersten rechts daneben! Verwirrend? Kommen wir zur Musik.
Da ich zuerst die ATR-Pressung und erst später das Original gehört habe, erlaube ich mir jetzt mal, bei der Reihenfolge der ersteren zu bleiben und also mit „Kinderspiele“ zu beginnen. Ein guter Freund von mir, den ich außerdem als Musiker mit Herzblut sehr schätze, ist seit Jahren bemüht, traditionelles deutsches Liedgut vom oft anhaftenden Staub und Mief zu befreien und etwas zeitgemäßer zu präsentieren. „Zeitgemäß“ bedeutet hier aber keinesfalls, daß elektronischer Schnickschnack verwendet wird. Er bleibt bei rein akustischer Handarbeit und versucht lediglich, es unseren heutigen Hörgewohnheiten anzupassen. Auch vertont er gelegentlich Gedichte von Ringelnatz und anderen Autoren jener Zeit. Das gelingt ihm meist großartig, bleibt aber nach wie vor nicht mein Ding. Und so ist es nicht verwunderlich, daß ich mit „Kinderspiele“, das mir weit weniger gelungen scheint, kaum etwas anfangen kann. Der Text stammt aus Heinrich Heines „Buch der Lieder“ (1827) und ist sicher nicht sein bester. Die von Erich Ferstl stammende Melodie ist dem Sujet entsprechend recht schlicht und haut mich nicht vom Hocker. Wenn ich das Album höre, beginne ich übrigens immer mit dieser Seite, egal, was für eine Zahl auf dem Label steht. Dann habe ich diese Nummer nämlich gleich hinter mir, und es darf nur noch geschwelgt werden! Was folgt, ist ausnahmslos große Kunst. Ganz große! Esther Ofarim präsentiert Songs auf Französisch, Hebräisch, Italienisch und Ladino (Sprache der spanischen Juden). Und ich verstehe kein Wort! Vielleicht ist das ja auch ganz gut so. Ob das nun banaler Kitsch oder die reine Poesie ist, muß ich nicht wissen, solange es so wunderbar klingt wie hier. Immerhin hat man für die hebräischen Texte auf angesehene israelische Dichter wie Nathan Alterman oder Aaron A. Ashman zurückgegriffen. Für die übrigen Sprachen war eine offensichtlich multilinguale Alexandra White zuständig. Die musikalische Verantwortung lag bei Erich Ferstl. Dieser deutsche Komponist und Arrangeur hatte davor hauptsächlich im Jazz und für den Film gearbeitet (Wilder Reiter GmbH, Konferenz der Tiere) und war in den 1970ern einer der stellvertretenden Vorsitzenden der GEMA (wie z.B. auch Ralph Siegel). Er fungiert hier als Produzent, Arrangeur, künstlerischer Leiter und hervorragender Gitarrist. Neun der zwölf Kompositionen stammen aus seiner Feder, die drei hebräischen von Mordechai Zeira, der schon seit 1961 Songs für Esther Ofarim schrieb. Kann ein in Bayern geborener und lebender Musiker wie Erich Ferstl französische, italienische und jüdisch angehauchte Chansons schreiben, die auch authentisch klingen? Man darf zweifeln, jedoch nicht mehr, nachdem man diese Platte gehört hat. Alles ist stimmig und weit entfernt von folkloristischem Kitsch. Einen gehörigen Beitrag liefert dazu natürlich auch das Kammerorchester der Münchner Philharmoniker, das extrem sparsam und auf allerhöchstem Niveau musiziert. Hier wird nichts mit Streichern zugekleistert, eher exotische Instrumente kommen nur zum Einsatz, wenn es wirklich der Sache dient. Überhaupt sind die Arrangements das Salz in der Suppe. Intelligent, ohne nach Abschlußarbeit an der Musikhochschule zu klingen, einfallsreich, Atmosphäre schaffend, das meisterhafte Können der Musiker herausstellend, ohne zu protzen und eben immer dem jeweiligen Stück dienend. Und dann ist da ja auch noch diese Sängerin. Nichts scheint ihr unmöglich, scheinbar schwerelos schwebt die Stimme über dem ausgebreiteten Klangteppich, immer aber mit Blickkontakt. Phantastisch! Und in Ferstl hatte Esther Ofarim hier einen Partner an ihrer Seite, der musikalisch einfach ein anderes Kaliber darstellte, als Abi Ofarim, von dem sie sich inzwischen getrennt hatte. Es ist fast unmöglich, irgendein Lied hervorzuheben, so durchgehend hoch ist hier das Niveau. Zwei persönliche Favoriten will ich aber trotzdem nennen: „Nique Nac No Muse“ und „Pamparapam“, beide zum niederknien arrangiert.
Beim Versuch, diese ungewöhnliche Platte einzuordnen, empfiehlt sich ein Blick auf das Deutschland von 1972. Auf der einen Seite standen Hits wie „Am Tag als Conny Kramer starb“ oder „Eine Liebe ist wie ein neues Leben“, auf der anderen die Gründung des Brain-Labels, das sich fortan dem aufkommenden Krautrock, der deutschen Variante progressiver Rockmusik, verschreiben sollte. Dazwischen dann das Ofarim-Album? Das wäre zu einfach. Diese Platte entzieht sich heftig den üblichen Kategorien, scheint völlig eigenständig außerhalb der deutschen Popmusiklandschaft zu stehen. „Weltmusik mit Anspruch“ wäre ein unzureichender Vorschlag, zumal auch ich diese Schublade niemals freiwillig öffnen würde. Aber trauen Sie sich ruhig!
Zwei Pressungen (HörZu und ATR) rangeln hier um den Platz auf meinem Plattenteller. Wie eingangs erwähnt, genießen beide einen fast legendären Ruf, was sich natürlich im Preis niederschlägt. Inzwischen habe ich das Gefühl, daß das 72er Original seltener angeboten wird als die angeblich sehr limitierte ATR-Platte. Mit ein wenig Geduld sollten jedoch gut erhaltene Exemplare von beiden für jeweils um die 25 Euro aufzutreiben sein. Die gute Nachricht: Sie brauchen aber nur eine! Grundsätzlich ist zu sagen, daß es an der Produktion aber auch gar nichts auszusetzen gibt. Vom Gesang, über Ferstls Gitarre bis hin zu jedem Begleitinstrument klingt alles wunderbar natürlich, sehr räumlich und dynamischer als so manche Scheibe weit härterer Gangart. Die wirklich gut klingende HörZu-Pressung hat allerdings vor allem bei der Abbildung von Esthers Stimme klar das Nachsehen. Auch schlägt die mit fast 180 Gramm ca. 40 Gramm schwerere ATR-Ausgabe insgesamt eine feinere Klinge. Wenn Sie also auf das etwas edler wirkende Cover der Original-LP verzichten können, brauchen Sie diese nicht wirklich. Sollten Sie sehr gute und vor allem sehr gut gemachte Musik mögen, und sollten Sie in der Lage sein, eigene Vorurteile gegenüber bestimmten Musikrichtungen und deren Protagonisten beiseite zu schieben (falls Sie, so wie ich, diese jemals hatten), dann verspreche ich Ihnen, daß Sie „Esther“ als ATR-Mastercut lieben werden! Ich staune immer noch jedes Mal ungläubig, nachdem ich dieses Album gehört habe. Und jedes Mal frage ich mich, was es, das doch eigentlich so gar nicht in mein Beuteschema zu passen scheint, so einzigartig macht. Es bleibt mir nach wie vor ein Rätsel. Und ich liebe rätselhafte Platten!
Musik: 8,5
Klang: 8,5 (Deutschland, 1972)
Klang: 9,5 (Deutschland, 1979)
Ronald Born, Juni 2013