Dwight Yoakam – Hillbilly Deluxe (1987)


Kinder, wie die Zeit vergeht! Vielleicht erinnern Sie sich ja noch an meine Besprechung von Steve Earles „Exit 0“. Im letzten Absatz war da zu lesen: „Demnächst werde ich von einem Typen berichten, der … 1987 ebenfalls sein zweites Album veröffentlichte...“. Sollten Sie nun seit Juni 2013 rätseln, wer wohl gemeint sein könnte und was „demnächst“ bedeutet – die Warterei hat ein Ende!

Dwight Yoakam wurde in einem Appalachen-Städtchen in Kentucky geboren, wuchs aber in Columbus, Ohio auf. Doch auch von da war es nicht besonders weit bis in die Berge, wo die Hillbillys (ursprünglich Hill-Billys) lebten. Diese keineswegs freundliche Bezeichnung bezog sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf die armen und kinderreichen Bewohner abgelegener Täler, die sich mit Schwarzbrennerei mühsam über Wasser hielten und in den Zeiten der Großen Depression in die Städte zogen, um ihr Glück zu suchen (und nur selten zu finden). Ihre Musik, heute auch als Old-Time Music bekannt, war so einfach und von unerfüllten Sehnsüchten durchzogen, wie ihr Leben. Der junge Dwight spielte schon während seiner Highschool-Zeit in Garagenbands. Berührungsängste mit den Klängen der „Landeier“ waren ihm bereits damals unbekannt.


Mit 20 Jahren schmiß er sein Studium an der Ohio State University und ging ins knapp 400 Meilen entfernte Nashville, um professioneller Musiker zu werden. Dort konnte man aber gerade mit Yoakams erdigem Honky-Tonk-Stil gar nichts anfangen. Verwässerte Countrymusik mit Alibi-Banjo und schluchzenden Geigen sowie schmalzige Balladen wie „Lucille“ spülten ungeheure Dollarbeträge in die Kassen. Alles, was Kenny Rogers berührte, schien zu Platin zu werden. Da hatte man auf einen jungen Wilden mit Dreck an den Stiefeln wirklich nicht gewartet. Pete Anderson, der Leadgitarrist von Dwights Band und spätere Produzent seiner Platten (bis 2002), versuchte damals gerade, Aufnahmen einer jungen Singer/Songwriterin, die er unter seine Fittiche genommen hatte, zu vermarkten. In New York sagte man ihm: „She's too country.“, in Nashville: „She's too rock.“. Viele Jahre später sollte genau diese Mischung Lucinda Williams mehrere Grammys einbringen. Doch damals war im Osten offensichtlich kein Blumentopf zu gewinnen. Also zogen Yoakam und Anderson weiter nach Kalifornien. Dort war nicht nur das Klima gesünder, auch die Musikszene war weit weniger verkrustet. Man spielte in Rock- und Punk-Clubs und gemeinsam mit so unterschiedlichen Bands wie Los Lobos und The Blasters.

Im nordöstlich von Los Angeles gelegenen Bakersfield, einst von aus Oklahoma eingewanderten Plantagenarbeitern (den Okies) bevölkert, hatte sich eine sehr lebendige Spielart des Hillbilly entwickelt und erhalten. In den 1960er Jahren definierten dann Buck Owens und Merle Haggard mit knackigen, dem Rock'n'Roll entlehnten Gitarren den sogenannten Bakersfield-Sound. Dwight Yoakam, erklärter Fan von beiden, trat nun als legitimer Erbe an.


1984 erschien der erste Tonträger, die 12“-EP „Guitars, Cadillacs, Etc., Etc.“, aufgenommen in den Excalibur Studios in L. A. und aus eigener Tasche finanziert. Die sechs Songs wurden sehr wohlwollend aufgenommen und von diversen kalifornischen Radiostationen gespielt (nur nicht von Countrysendern). Reprise Records, das sich 10 Jahre lang fast ausschließlich um Frank Sinatra und Neil Young gekümmert hatte, wurde hellhörig und nahm den jungen Musiker unter Vertrag. Man packte noch vier weitere Songs dazu (darunter erstaunlicherweise das Titelstück), und fertig war die Debüt-LP (1986). Der potente neue Partner (im Besitz von Warner Brothers) warf daraufhin die große Marketing-Maschinerie an und produzierte mit „Honky Tonk Man“ das erste Country-Video, das jemals von MTV gesendet wurde. Die LP landete prompt auf Platz 1 der Country-Charts. Und auch Yoakams häufige Präsenz außerhalb der huttragenden Kreise machte sich nun bezahlt. Das amerikanische Rockpublikum hatte diesen unkonventionellen Typen nämlich durchaus ebenfalls bemerkt (was sich kaum vermeiden lässt, wenn man mit Bands wie Hüsker Dü gemeinsam auf Tournee geht) und zumindest als ernstzunehmenden Musiker akzeptiert. Platz 61 in den Billboard-Charts war der Lohn.


Das Wesen von Country Music hat sich bis heute kaum verändert. Schon kurz nach ihrer Entstehung in den 1920ern war sie geprägt von Tradition, Nabelschau und Rückbesinnung. Und nicht selten gab sie sich konservativ oder gar reaktionär, je nachdem, auf welchen Säulenheiligen man sich bezog. Jede neue Generation schuf sich wieder ihre eigenen Helden, auf die sich deren Jünger dann ihrerseits bezogen. Im neuen Jahrtausend reicht diese gedachte Referenzlinie, auch wenn man das manchmal kaum noch hört, von Leuten wie Taylor Swift oder Darius Rucker über Garth Brooks, die Dixie Chicks, Randy Travis und Alan Jackson, Willie Nelson und Johnny Cash, Hank Williams und Roy Acuff bis zu Jimmie Rodgers und der Carter Family. In diesem langen Zeitraum entwickelten sich natürlich unterschiedlichste Stilrichtungen und Unterarten, die sich abspalteten und wieder einverleibt wurden, völlig ausstarben oder mehrere Revivals erlebten. Man traf auf religiöse Fanatiker und Rassisten genauso wie auf Erneuerer und Outlaws. Jedoch wurden Grenzen zwar verschoben, aber nie überschritten oder gar gesprengt! Country Music schmorte schon immer in ihrem ganz eigenen Saft. Wenn dann junge Köche diesen Braten, um im Bild zu bleiben, mit frischen Ideen würzten und die Zutaten originell variierten, konnte das Ergebnis aber durchaus aufregend und schmackhaft werden. Und „Hillbilly Deluxe“ war in den 80ern eines der gelungensten Menüs auf der Karte.


Gleich mit „Little Ways“ zeigte Dwight Yoakam an, von wem er das Kochen gelernt hatte: Buck Owens. Serviert wird feinster Retro-Bakersfield-Sound mit einer „twangy“ E-Gitarre (Pete Anderson) und einem weit nach vorne gemischten, stoischen Schlagzeug (Jeff Donavan). Der Banjo-Spieler Herb Pedersen (The Dillards) übernahm die hohe zweite Gesangsstimme, für die bei Buck Owens der Gitarrist Don Rich zuständig gewesen war.

Mit „Smoke Along The Track“ hatte Stonewall Jackson schon 1959 einen kleineren Hit. Die Nummer ist eine von drei Coverversionen auf „Hillbilly Deluxe“. Obwohl kaum eine Platte dieses Genres ohne die tiefe Verbeugung vor den „Gründervätern“ auskommt, gelingt es Yoakam, dank seiner charismatischen Persönlichkeit und unverwechselbaren Stimme, auch solche Songs wie seine eigenen klingen zu lassen. Hören Sie zum Beispiel mal in seine 1997er Scheibe „Under The Covers“ (leider bis heute nur auf CD) rein. Egal, ob die Vorlagen von Roy Orbison, The Clash, Jimmy Webb, den Beatles oder Rolling Stones kommen, am Ende ist es doch immer Dwight Yoakam. Daß „Train In Vain“ von „London Calling“ stammen soll, glaubt Ihnen danach niemand mehr!


Die drei immer wiederkehrenden Themen in Countrysongs sind durch alle Jahrzehnte hindurch Liebe, Tod und Alkohol. „Johnson's Love“ widmet sich den ersten beiden mit stark gedrosseltem Tempo, einer wimmernden Pedal Steel und einem dramatischen Text und droht, als weinerliche Schnulze zu enden. Aber nicht mit diesem Sänger, nicht mit dieser Band, die hier einmal mehr beweisen, daß sie auch auf einem solch schmalen Grat schwindelfrei balancieren können und den geheuchelten Emotionen vieler Kollegen echtes Gefühl entgegensetzen. Nase abputzen und zurück auf die Tanzfläche mit „Please, Please Baby“! Wieder hat Buck Owens seine Finger im Spiel, die Fiddle von Brantley Kearns heizt mit Staccatos ordentlich ein. Die Stammband nennt sich hier übrigens „The Babylonian Cowboys“, Gäste werden kurzerhand zu „The 'Honorary' Babylonian Cowboys“ ernannt.

Beendet wird die erste Seite mit „Readin', Rightin', RT. 23“, das inhaltlich auf den Albumtitel Bezug nimmt. Es geht um den Highway 23, der von Florida bis nach Michigan führt. Auf ihm gelangten die Hillbillys aus Kentucky in die Industriestädte des Nordens, um der selbstzerstörerischen Arbeit in den Kohlegruben zu entfliehen, nicht ahnend, daß auch diese Straße „could lead them to a world of misery“.


Seite 2 bginnt mit einer weiteren Verbeugung, diesmal vor Lefty Frizzell. Auch dessen „Always Late With Your Kisses“ stammt aus dem Jahr 1959. Yoakam hält sich weitgehend an das Original, erspart sich und uns aber den Frauenchor. Dafür kommt der von mir über alle Maßen verehrte Greg Leisz zu einem seiner ersten Jobs als Lap-Steel-Gitarrist. Wenn der mal richtig von der Leine gelassen wird, wie auf Ryan Adams' „Chin Up, Cheer Up“ (dem Song, mit dem ich meinen Nachbarn die neuen Boxen „vorgestellt“ habe), vergisst man, Luft zu holen und fragt sich, warum den Kerl eigentlich nicht jeder bucht, dem Jerry Douglas zu teuer ist.

1.000 Miles“ ist ein bitteres, etwas wehleidiges Abschiedslied, wie es wohl auf jede anständige Countryplatte gehört. Charme und knackiger Sound vermeiden aber auch hier Schlimmeres. Das Album hängt kurzzeitig etwas durch, da auch „Throughout All Times“ nicht ganz das bisherige Niveau halten kann. Auf sehr vielen anderen Scheiben, auf denen Typen mit Cowboyhut auf dem Cover posieren, würden diese beiden Nummern jedoch allemal zu den Highlights zählen.

Nach Honky Tonk, Bluegrass und Rockabilly wird anschließend noch eine weitere Zutat in den Topf geworfen: früher Rock'n'Roll im Stil Elvis Presleys, dessen Stimme Dwight Yoakam ja unverkennbar beeinflußt hat. Für die überfällige Reminiszenz wurde „Little Sister“ ausgewählt, das 1961 gemeinsam mit „His Latest Flame“ die unwiderstehlichste Single des Jahres abgab. Und Yoakam muß sich ein Vierteljahrhundert später gewiß nicht verstecken. Es rockt und swingt in einer Art, daß man geneigt ist, die lädierte Bandscheibe für drei Minuten zu vergessen! Na gut, fünfeinhalb, denn „This Drinkin' Will Kill Me“ dürfte verhindern, daß man ungerührt wieder Platz nimmt. Zu Liebe und Tod gesellt sich nun am Ende doch noch der Alkohol. Zum Glück jedoch nicht so „bierernst“, wie man befürchten könnte. Was nützen die mahnenden Worte des Pfarrers, wenn allein der Barkeeper Trost verspricht? Und auch der tief ins Gesicht gezogene Hut kann nicht verhindern, daß man Dwights Augenzwinkern bemerkt.


Dieses Zwinkern ist es auch, das so ziemlich jede der hinlänglich bekannten Posen, jedes aufgewärmte Klischee entschärft. Eine Portion Ironie ist hier deutlicher Bestandteil der Inszenierung und wichtiges Unterscheidungsmerkmal von all den smarten Jungs, die das Genre hat kommen und gehen sehen. Cooler als Dwight Yoakam war keiner. Und wem, wie ihm, die unanständig engen Jeans von vor 30 Jahren noch immer problemlos passen, der möge nach vorn treten!

Die Platte erschien im April 1987 und tummelte sich dann im Juni für zwei Wochen an der Spitze der Country-Album-Charts, abgelöst von Randy Travis' „Always & Forever“. Dieses wahrlich nicht schlechte Album (mit Jerry Douglas) belagerte mit kurzen Unterbrechungen für ein ganzes Jahr die Spitzenposition und zeigte deutlich, daß Nashville noch längst nicht über'n Berg war. Die frischere Brise wehte eindeutig in Kalifornien. Das änderte sich auch nicht, als die Countrymetropole ihren neuen Goldesel ins Rennen schickte, um sämtliche Verkaufsrekorde seit Elvis und den Beatles zu Staub zu zermahlen. Aber selbst wenn sich Yoakams folgende Alben wie „Buenas Noches From A Lonely Room“ oder „This Time“ an der Kasse weiter hinten einreihen mußten, musikalisch sind sie aus meiner Sicht denen von Garth Brooks einfach überlegen. Weniger Schmus, mehr Grandezza. Und Songs von der Klasse eines „Much Too Young (To Feel This Damn Old)“ (auf Brooks' Debüt) findet man bei Dwight Yoakam beinahe im Dutzend. Ich habe „Callin' Baton Rouge“ vergessen? Sorry, aber das ist von Dennis Linde. Daß Garth Brooks heute nicht mal mehr sein alter Hut passen dürfte ist zwar nicht von Belang, rundet das Bild aber im wahrsten Sinn des Wortes ab. Tja, Garth, „have you ever walked the streets of Bakersfield“? Eben.


Hillbilly Deluxe“ klingt wie ein klarer Gebirgsbach. Bitte sehen Sie mir diese etwas kitschige Beschreibung nach! Aber bei der Besprechung eines Country-Albums, und sei es noch so innovativ, scheint mir das legitim. Produziert von Pete Anderson und mit Dusty Wakeman an den Reglern gelingt ein extrem aufgeräumtes Klangbild, jedes Instrument kommt zu seinem Recht, keine einzige Note geht verloren. Das Mastering von Eddie Schreyer, dem Capitol schon die Restaurierung früher Beatles-Aufnahmen anvertraut hatte, und der 2013 auch an Dylans „Complete Album Collection Vol. One“ beteiligt war, ist zudem erstklassig. Nur leider sind wir im Jahr 1987. Die Adjektive „kalt“ und „metallisch“ scheinen untrennbar mit dem Sound von Produkten dieser Zeit verknüpft zu sein. Im Autoradio kam das sicherlich sehr knackig rüber und konnte auch den eingestreuten Werbespots die Stirn bieten. Nur der heimische Plattenspieler fühlte sich in der ihm plötzlich zugedachten Nebenrolle als „CD-Player der Ewiggestrigen“ zu Recht fehlbesetzt. Will sagen, für Platten wie diese, die so offensichtlich wie eine CD klingen wollen, hätte man nicht zwingend Vinyl aufwenden müssen. Das gilt sowohl für das US-Original (Reprise 1-25567), als auch für die fast identische deutsche Ausgabe (Reprise 925 567-1). Wenigstens braucht man zum Lesen der Texte auf der Innenhülle keine Lupe.


Es war Zufall, daß vor wenigen Wochen in den USA eine Neuauflage (der Sticker spricht etwas großspurig von „Audiophile Vinyl“) des Albums erschien. Viel eher hätte ich diese Besprechung also gar nicht in Angriff nehmen müssen. Nachdem mich ein Händler versetzt hatte, mußte ich auf ein deutlich teureres Angebot zurückgreifen. Aber für meine treuen Leser mache ich das ja gerne! Außerdem war ich neugierig. Ging da noch was? Nun, als „audiophil“ würde ich das Ergebnis nicht bezeichnen, aber die 180-Gramm-Pressung ist nicht nur 70 Gramm schwerer als ihre Vorfahren, sie klingt auch wärmer, weniger spitz, einfach angenehmer, ohne dabei ihren Schneid einzubüßen. Dummerweise wird nicht erwähnt, wem wir das zu verdanken haben, und das Kürzel neben der Matrixnummer sagt mir gar nichts.

Schlieren auf dem Vinyl sind ja heute leider keine Seltenheit mehr. Auch die neue LP (Reprise 545789-1) ist nicht frei davon. Aber auf die Klangqualität hat das zum Glück keinen Einfluß, sieht halt nur nicht gerade schön aus. Ansonsten ist die Platte sehr gut gefertigt, mit originalgetreuem Cover und Innenhülle. So sollte das sein. Ach ja, und ein Downloadcode liegt (für wen auch immer) ebenfalls bei. Dicke Empfehlung also für diese Ausgabe, vor allem für diejenigen, die die Platte noch gar nicht oder nur als CD haben, und denen die Lebensgefährtin ständig mit Garth Brooks oder Keith Urban in den Ohren liegt.


Musik: 8,5

Klang: 7,5 (USA, 1987)

Klang: 7,5 (Deutschland, 1987)

Klang: 8,5 (USA, 2015)


Ronald Born, April 2015