David Blue – Stories (1971)
Einzig in Dylan-Fan-Kreisen ist der Name David Blue noch gegenwärtig. So spielt er im Film „Renaldo & Clara“ sich selbst, sitzt auf dem LP-Cover von „The Basement Tapes“ im Schneidersitz und mit gefalteten Händen links neben Rick Danko, und auf seinem vorletzten Album „Com'n Back For More“ bläst der Meister höchstselbst bei einem Stück die Mundharmonika. Das genügt immerhin für eine Fußnote in der Rockgeschichte. Seine Musik jedoch ist scheinbar völlig aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Und das in Zeiten, wo selbst längst vergessen geglaubte Werke von Leuten wie Marcos Valle, Vashti Bunyan oder Sixto Rodriguez durch teils hervorragende Neuauflagen eine späte Würdigung erfahren. Mir jedoch ist es ganz recht, daß die Schatzjäger ihre Sticker mit dem fetten Aufdruck „Kult!“ noch nicht auf seine Platten gepappt haben. Bitte denken Sie in ein paar Jahren daran: Sie haben von mir zuerst erfahren, daß „Stories“ ein ganz und gar wundervolles Album ist! Und sollte sich irgendwann die Gelegenheit bieten, auf Bob Dylans coffee table zu steigen, würde ich das vielleicht auch ihm verraten.
Nach nicht gerade problemlos absolvierter Kindheit und Jugend verließ Stuart David Cohen, wie er damals noch hieß, mit 17 Jahren Familie und Highschool und ging zur Navy. Danach landete er in New Yorks Greenwich Village als Tellerwäscher im legendären Gaslight Cafe. Dort ließ es sich gar nicht mehr vermeiden, Jack Elliott, Ginsberg oder dem jungen Dylan über den Weg zu laufen. Es folgten Schauspielunterricht, eigene Gedichte, Songs. Und als er dann begann, diese in den umliegenden Clubs vorzutragen, war er plötzlich mittendrin im engeren Zirkel um Dylan, Bob Neuwirth, Phil Ochs, Dave Van Ronk und Eric Andersen. Letzterer war es auch, der ihm empfahl, seinen Namen zu ändern, da schon mehrere Musiker mit eben diesem im Rennen waren. Wohl wegen seiner schönen blauen Augen wurde also aus David Cohen David Blue. Dylan fand den neuen Namen sehr witzig. Die Behauptung, er wäre Inspiration für „It's All Over Now, Baby Blue“ (sowie für Joni Mitchells „Blue“) gewesen, steht jedoch auf sehr wackligen Beinen. Dennoch konnte sich David in den ersten Jahren im Village als engen Freund Bob Dylans bezeichnen, mußte aber feststellen, daß dessen wachsende Popularität bald keine Nähe mehr zulassen sollte, von einer Freundschaft auf Augenhöhe ganz zu schweigen. Immerhin durfte er diese Erkenntnis mit vielen anderen Weggefährten teilen.
Sein erstes Album („David Blue“, 1966) hätte eigentlich die übliche Ausrufung des nächsten „New Dylan“ zur Folge haben müssen, blieb aber weitgehend unbeachtet. Nach einer weiteren, lediglich von der Kritik registrierten Platte, verließ ihn seine Freundin, und er brauchte zwei Alben, um die gescheiterte Beziehung zu verarbeiten. Das zweite war „Stories“.
Gleich im ersten Song, „Looking For A Friend“, geht es um Einsamkeit und die Schwierigkeiten, neue Freunde zu finden. Moll ist das bevorzugte Tongeschlecht auf dem gesamten Album. Die Texte sind dazu passend von einer tiefen Traurigkeit (oder ist es genau umgekehrt?), aber nicht depressiv, eher desillusioniert. Und auch wenn er über vergangene Beziehungen singt, wird er nie zynisch. Bei Dylan, seinem offensichtlichen Vorbild, ist das ja oft anders. Aber auf dieser Platte entfernt Blue sich sowieso weiter von seinem alten Kumpel, als auf jeder anderen (im Rahmen seiner Möglichkeiten natürlich). Und das tut dem Werk hörbar gut. So entwickelt sich eine Eigenständigkeit, die es einem gestattet, einfach nur David Blue zu hören. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Haben einen „Sister Rose“ und „Another One Like Me“ dann endgültig in den Bann gezogen, beendet ein Song die erste Seite, der es einem unmöglich macht, die Platte einfach umzudrehen: „House Of Changing Faces“. Vielleicht ist es Ihnen ja schon aufgefallen, daß ich mit Superlativen recht sparsam umgehe. Hier jedoch gibt es keinen Grund mehr, nicht von einem Meisterwerk zu sprechen! Geht es um Drogenphantasien oder einfach nur um obskure, aber reale Gestalten? Auf jeden Fall windet sich der Erzähler unter quälenden Erinnerungen, und die Musik sorgt für ein dramatisches Auf und Ab. Nachdem man dann mehrmals tief Luft geholt hat, ist man allmählich bereit für die zweite Seite.
„Marianne“ könnte ein Echo von Leonard Cohens „So Long, Marianne“ sein. Auch wurde spekuliert, ob es sogar von der selben Frau handelt, einer Norwegerin, die auf der Coverrückseite von „Songs From A Room“ zu sehen ist. Im Text heißt es: „I knew her from another song her older poet he wrote before.“. Das klingt recht eindeutig. Aber auch sonst erinnert das Stück stark an Cohen, mit dem David (Cohen) Blue nicht verwandt war. Beide kannten sich jedoch und schätzten sich über alle Maßen. Neben dem Gesang scheint auch Pete Jollys klagendes Akkordeon eine direkte Linie zum vier Jahre früher erschienenen Cohen-Stück zu ziehen. 2006 wurde dessen Marianne von einer Journalistin in der Nähe von Oslo interwiewt. Über David Blue wurde nicht gesprochen.
„Fire In The Morning“ spielt an einem kalten, windigen Morgen in einem ebenso kalten Restaurant. Der Sänger gefällt sich in seiner Einsamkeit, bis ihm dann, wohl aus Versehen, „All I'd want is love in return“ herausrutscht. Dazu begleitet ihn ein (wie sollte es anders sein) einsames Klavier und von Jack Nitzsche arrangierte Streicher. Beim folgenden „Come On John“, einem Stück über Drogensucht, darf dann die komplette Band ran. Mit Russ Kunkel, Ry Cooder und Chris Ethridge ist reichlich Westküsten-Prominenz vertreten. Im letzten Song, „The Blues (All Night Long)“, wird die dann noch durch Rita Coolidge verstärkt. Die Nummer klingt genau so, wie der Titel schon vermuten läßt. Am bemerkenswertesten ist hier das Slidegitarrenspiel Ry Cooders.
Diese letzten beiden Songs des Albums halten nicht ganz das Niveau ihrer Vorgänger. Das ist aber meine ganz persönliche Sichtweise. Die hier vor mir liegende US-Ausgabe ist ein Promo-Exemplar. Auf dem Frontcover prangt der übliche Sticker mit den „suggested cuts for air play“, also dem Hinweis an die Radio-DJs, welche Stücke nach Meinung der Plattenfirma gespielt werden sollten, um die Platte zu promoten. Neben „Another One Like Me“ werden hier genau diese beiden Songs genannt. In meinen Augen eine absolute Fehleinschätzung. Entlastend sollte man aber hinzufügen, daß sich auch keiner der anderen, gelungeneren Songs für das gängige Radioprogramm aufgedrängt hätte. Und so verschwand die Platte alsbald in der Versenkung, wo sie sich scheinbar auch heute noch aufhält. Auf Blues nächstem Werk, „Nice Baby And The Angel“ (1973), finden sich mit „On Sunday, Any Sunday“ und „Troubadour Song“ zwei Stücke, die ich mir einfach viel besser auf „Stories“ hätte vorstellen können. Mit diesem Tausch (Man wird ja wohl auf seiner eigenen Seite noch ein bißchen träumen dürfen!) hätte die Platte dann einen Platz auf dem Podest, auf dem schon „Blood On The Tracks“ und „White Light“ stehen. Aber auch in der vom Künstler vorgelegten Form kann ich Ihnen die Scheibe nur ausdrücklich ans Herz legen! Machen Sie jedoch einen großen Bogen darum, wenn Sie eh schon einen harten wie unbefriedigenden Arbeitstag hinter sich hatten, und Ihr Hund gerade auf den Teppich gepisst hat, weil er bei diesem mistigen Spätherbstwetter die Wohnung nicht verlassen wollte!
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen mit einem stummen Fremden in der Eckkneipe auf ein Bier an einem grob gezimmerten Tisch. Plötzlich beginnt der Typ, eher zu sich selbst, als zu Ihnen, von den Widrigkeiten des Lebens zu sprechen. Und das so authentisch, daß Sie sofort mittendrin sind in seiner Geschichte - und mittendrin in seiner Platte. Diese tiefe, fast emotionslose Stimme nimmt Sie gefangen, und die sehr sparsam begleiteten Erzählungen lassen jedem Instrument den nötigen Raum, den es braucht, um eine perfekte Illusion von Natürlichkeit und Vertrautheit zu schaffen. Magisch!
In den Jahren 1969 und 1970 veröffentlichte Bob Dylan drei Alben nacheinander, auf deren Cover, zumindest bei den originalen US-Ausgaben, weder sein Name noch der Titel abgedruckt war. Bei dem medialen Rummel, der damals um jede neue Dylan-Platte gemacht wurde, schien das vertretbar. Durch ganzseitige Werbeanzeigen wußten die Leute schon vorher, wie die Scheiben aussahen, die sie suchten. Für das neue Album von David Blue jedoch, dessen Cover lediglich ein von Allison Caine gemaltes Porträt zierte, scheint mir das der falsche Weg gewesen zu sein. Irgendwann reifte diese Erkenntnis wohl auch bei den Verantwortlichen, und man klebte einen Sticker mit dem Namen des Künstlers und der Platte nachträglich auf die Hülle. In Australien und England, den wohl einzigen Ländern, in denen „Stories“ außerdem veröffentlicht wurde, waren diese Angaben von Anfang an in gelben Lettern aufgedruckt. Das ist dann auch einer der wenigen Unterschiede zwischen der bereits erwähnten US-Promo (Asylum SD 5052) und meiner australischen Ausgabe (Asylum SYL-9001). Beide wiegen ca. 125 Gramm, und beide verwenden die amerikanische Innenhülle mit Texten und einem verschwommenen Foto Blues. Auch beim Klang kann ich keine Abweichungen ausmachen. Die intime Atmosphäre, die spielerisch alle Räume ausfüllt, die kleinen Details, die durch die akustischen Instrumente erzeugte wohlige Wärme, alles da.
Soweit ich weiß, ist diese Platte bis heute lediglich in Japan auf CD erschienen. Nur ein weiterer Grund, sich um ein Vinyl-Exemplar zu bemühen. Und ich kann Ihnen versichern, daß diese Mühe sich lohnt!
Musik: 9,0
Klang: 9,0 (USA, 1971)
Klang: 9,0 (Australien, 1971)
Ronald Born, Juli 2013