Adele – 21 (2011)


Radio höre ich ausschließlich im Auto; meist Nachrichten oder Reportagen und ganz bestimmt nicht die „größten Hits von heute“. Ein guter Freund stellt etwa zwei Mal im Jahr eine CD mit den, seiner Meinung nach, besten Nummern der vergangenen Monate zusammen. Die Namen von gut der Hälfte der ausgewählten Künstler habe ich noch nie zuvor gehört und häufig schon wieder vergessen, bevor ihr Lied zu Ende ist. Aber ohne diese kleine „Nachhilfe“ wäre ich wahrscheinlich komplett ahnungslos, was die neuen Sternchen am Firmament betrifft. Sie können das von mir aus gern ignorant oder ewiggestrig nennen. Es beruht einfach auf der zeitsparenden Erkenntnis, daß es im Formatradio nicht mehr viel zu verpassen gibt. Der sicherste Weg, meine beschränkte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, ist immer noch, einen Song von Bob Dylan aufzunehmen. Adele muß das gewußt haben. Nur werden heute wöchentlich neue Coverversionen von dessen Stücken veröffentlicht. Man kommt nicht mehr hinterher, und die Ergebnisse rechtfertigen oft genug den Aufwand nicht, den ein paar Unentwegte betreiben, um möglichst nichts ungehört vorbeiziehen zu lassen (Und trotzdem: lasst Euch nicht entmutigen, Jungs!). So quittierte ich die Nachricht, daß eine junge Engländerin auf ihrem Debüt „Make You Feel My Love“ gecovert habe, lediglich mit einem Schulterzucken. Ausgerechnet „Make You Feel My Love“! Gemessen an dylanschen Maßstäben mußte man die Nummer als Schnulze bezeichnen, und fast alle mir bis dahin bekannten Versionen (von Billy Joel über Garth Brooks bis zu Bryan Ferry) gaben sich redlich Mühe, das auch jedem unter die Nase zu reiben. Wen interessierte da eine weitere Demonstration? Im Oktober 2008 veränderte sich die Situation jedoch dramatisch. Der Song wurde als Vinyl-Single veröffentlicht! Und meine Vermutungen sollten sich bestätigen; ein Klavier, ein paar Streicher, alles wie gehabt. Wäre da nicht diese Stimme, die den oben erwähnten alten Hasen den Unterschied zwischen einer gefühlsbetonten und einer gefühlvollen Interpretation vor Augen führte! Die B-Seite, „Painting Pictures“, strafte dann meine schlauen Theorien Lügen, indem sie sich als formidabler Kracher entpuppte. Und den sollte sie selbst geschrieben haben? Meine Begeisterung reichte zwar noch nicht aus, mir daraufhin ihr erstes Album („19“) zu kaufen, aber zwei Jahre später war es praktisch unmöglich, „Rolling In The Deep“ zu entgehen, selbst wenn man sich gerade auf einer Antarktis-Expedition befunden hätte. Die nächste Single, zeitgleich mit dem Album „21“ veröffentlicht, war dann „Someone Like You“, und sie wischte letzte Zweifel vom Tisch, es hier mit einer der üblichen Eintagsfliegen zu tun zu haben. Ergreifender hatte seit „Blood On The Tracks“ kaum jemand seinen Trennungsschmerz verarbeitet. Dabei war Adele 12 Jahre jünger als Dylan damals und trotzdem meilenweit davon entfernt, in ein Teenager-Lamento zu verfallen. Unterstützt wurde sie beim Schreiben von erfahrenen Produzenten wie Paul Epworth und Fraser T. Smith sowie den Songwritern Ryan Tedder, Greg Wells und Dan Wilson. Sie alle sorgten dafür, Adeles Trauer, Wut und Enttäuschung nicht in Selbstmitleid versinken zu lassen, sondern in kraftvolle, selbstbewußte Songs zu verwandeln, die ihrem Ex-Geliebten wahrscheinlich heute noch die Ohren bluten lassen.


So lud sie Ryan Tedder (One Republic), den sie 2009 anläßlich der Grammy-Verleihung kennengelernt hatte, zur Zusammenarbeit in ein Londoner Studio ein. Der war ein paar Stunden zu früh aufgetaucht und hatte bereits einen Melodieentwurf und ein paar Textzeilen im Kopf, als Adele hereinstürmte, noch völlig aufgebracht wegen einer erneuten Auseinandersetzung mit ihrem Ex. Ohne es zu wissen, hatte Tedder den Nagel auf den Kopf getroffen. Die Worte „Close enough to start a war, all that I have is on the floor“ erwiesen sich als perfekter Einstieg in „Turning Tables“, eine unmißverständliche Brandrede und Kanalisation ihres Zorns gegenüber diesem Typen, der ihre Argumente einfach wegdiskutiert und immer das letzte Wort gehabt hatte. Einen versöhnlichen Unterton könnte man höchstens in der Musik finden. Aber da sollte er sich nicht zu sicher sein.

Das sich anschließende „Don't You Remember“ fängt ihre Zweifel ein, scheint einen Rückzieher zu machen, endet mit einem flehenden „When will I see you again?“. Aber ich habe nie behauptet, die Frauen zu verstehen. Wie Adele mit ihrer Stimme eine hochemotionale Spannung aufbaut, diese wunderbare Melodie auflädt, läßt mich einigermaßen sprachlos zurück. Und mit „Set Fire To The Rain“ wird es nicht besser. Erst bei „He Won't Go“, im Gegensatz zu den fünf Songs davor nicht mit dem gewissen Etwas gesegnet (und kein Beziehungs- sondern Drogendrama), kann man mal ein wenig durchatmen. Eine starke Platte verkraftet solche Momente locker.


Take It All“, mit dem die zweite Seite beginnt, ist der einzige Song, der noch vor der endgültigen Trennung geschrieben wurde (Frühjahr 2009), auch wenn die Beziehung offensichtlich schon in stürmische See geraten war. Auch vom Sound her erinnert das Stück eher an das Debütalbum. Nach zwei Wochen brach Adele die ersten Sessions unzufrieden ab und nahm die Arbeiten an der neuen Platte erst wieder auf, als ihr Privatleben endgültig einem Trümmerfeld glich. Friede, Freude, Eierkuchen waren also nicht zu erwarten. Aber hat schon mal jemand eine unter die Haut gehende Soul-Nummer gehört, in der es um treusorgende Ehemänner ging? Interessiert das jemanden?

Wenn Adele in „One And Only“ singt: „I grow fonder every day“, meint sie damit nur, was dem aufmerksamen Hörer eh nicht entgangen war: sie ist erwachsen geworden, mit all den Enttäuschungen und Schmerzen, die dazu gehören. Da kommt man dann doch noch auf ihr Alter zu sprechen, auch wenn das nur sehr bedingt im Zusammenhang mit der Qualität der Musik steht. Schließlich wurden auch „Don't Think Twice, It's All Right“ oder „Who Knows Where The Time Goes?“ von 21-Jährigen geschrieben. Und „21“ meint hier Adeles Alter zum Zeitpunkt der Entstehung der meisten Songs, nicht der Veröffentlichung. Da war sie schon 22, aber man kommt natürlich trotzdem aus dem Staunen nicht heraus. „Hometown Glory“, das später ihre erste Single werden sollte, schrieb sie mit 16! Der Beginn ihrer Musikkarriere liest sich wie das Drehbuch einer wenig originellen Vorabendserie: ein Schulfreund veröffentlicht ein Demo bei Myspace, das wird zum Renner, eine Plattenfirma ruft an (XL Recordings, die mit M.I.A., den White Stripes und Thom Yorke gerade auf die Erfolgsspur eingebogen waren), die BBC sagt ihren Durchbruch für 2008 voraus, schon die zweite Single („Chasing Pavements“) schießt dann auch in England allein durch Downloads auf Chartplatz 2. Heute stehen an die 40 Millionen verkaufte Alben, etwa 100 branchenübliche Auszeichnungen (mit einem Oscar für „Skyfall“ und 10 Grammys als den wichtigsten) und ein stattliches Millionenvermögen zu Buche. Und dafür brauchte Adele keine zehn Jahre!


Ich beginne „21“ gern mit der zweiten Seite, weil dann die besten Songs erst gegen Ende der Platte kommen. Das ist jedoch eine rein persönliche Einschätzung, denn natürlich sind auch „I'll Be Waiting“ oder The Cures entschleunigter „Lovesong“ (nicht für den Ex, sondern ihre Mutter) wirklich hervorragend, packen mich aber nicht so direkt, wie die ersten fünf.

Noch in England hatte Adele mit verschiedenen bereits erwähnten Produzenten Demos eingespielt, bevor sie nach Amerika flog, um mit Rick Rubin in den Shangri-La Studios in Malibu das komplette Album aufzunehmen. Nach dem Besuch einiger Konzerte ihrer US-Tournee hatte sich Rubin mehr oder weniger selbst als Produzent ins Gespräch gebracht. Seine unorthodoxen Methoden und seine wohl etwas gewöhnungsbedürftige Art dienen allein dem Zweck, das Optimum aus einem Künstler herauszukitzeln. Der weitgehende Verzicht auf Samples und elektronische Instrumente prägt seit Jahren den reduzierten aber enorm kraftvollen Sound seiner Produktionen. Obwohl alle Beteiligten nach den Aufnahmen aus dem Schwärmen nicht mehr herauskamen, war Adele vom Ergebnis enttäuscht und bezeichnete die Zusammenarbeit mit dem legendären Rauschebart gar als entmutigend. Ihr radikaler Entschluß, alles auf Basis der alten Demos noch einmal neu einzuspielen, ist an künstlerischem Selbstbewußtsein nicht zu übertreffen. Rubin war aus dem Rennen, und Adele vertraute sich wieder ihren bewährten Produzenten an. Nur vier Stücke der Malibu-Sessions überlebten diesen Schnitt.

Wenn man die Ohren ordentlich spitzt, hört man ganz zu Beginn von „Rolling In The Deep“, wie Paul Epworth, während er akustische Gitarre spielt, Adele einzählt. Dieser Teil stammt noch von der allerersten Aufnahme, die nun lediglich „aufgepolstert“ wurde. Bei „Set Fire To The Rain“ befand dann Fraser T. Smith den ersten Versuch allen folgenden so weit überlegen, daß man das Demo gleich ungeschminkt und lediglich klanglich bearbeitet auf die Platte brachte.


Adele wurde 1988 in London geboren. Da verwundert es nicht, daß es die Spice Girls waren, die einen ersten bleibenden musikalischen Eindruck hinterließen. Es folgten Gabrielle, Destiny's Child und Mary J. Blige. Warum ich das erzähle? Weil man auf „21“ praktisch nichts davon hört! Die Platte klingt einfach viele Jahre älter, als sie tatsächlich ist; ein längst ausgestorben geglaubtes Tier, mit modernster Technik wieder zum Leben erweckt. Und das verdanken wir den musikalischen Vorlieben des Busfahrers auf einer von Adeles Tourneen durch die amerikanischen Südstaaten und natürlich dem Geschick ihrer Produzenten, die diesen Vintage-Sound, in den sich die Sängerin daraufhin verliebt hatte, so stilecht hinbekamen. Wenn man die Songs heute hört, kann man sich unmöglich vorstellen, daß sie auch nur eine Spur anders klingen könnten.

Das Album erschien am 24. Januar 2011 (in den USA einen Monat später) und begann aus dem Stand, Schallmauern zu durchbrechen und Rekorde zu pulverisieren. Die Platte ist die meistverkaufte im neuen Jahrtausend, und es ist wesentlich einfacher, die Länder aufzuzählen, in denen sie nicht an der Spitze der Charts stand: Japan, Portugal, Russland und Spanien! Im Windschatten dieses Erfolges segelte auch „19“ nochmals weit nach vorn, und so standen im Februar 2011 erstmals seit den Beatles im Jahr 1964 wieder zwei LPs und zwei Singles („Someone Like You“ und „Rolling In The Deep“) eines Künstlers gleichzeitig in den Top-Five der englischen Hitparaden. In den USA wurde „21“ zum bestverkauften Album 2011 sowie 2012, was es seit „Thriller“ (1983 und 1984) nicht mehr gegeben hatte. Es führte 30 Wochen lang die holländischen Charts an, die irischen sogar 35 Wochen. Und so weiter, und so weiter.

Ende letzten Jahres meldete sich dann die große alte Dame Aretha Franklin, Queen of Soul, mit dem Album „Sings The Great Diva Classics“ (wobei sich die Frage, wer hier eine Diva ist, nie stellte) zu Wort, auf dem auch „Rolling In The Deep“ von ihr interpretiert wurde. Sollte das ein Versuch sein, Adele zu zeigen, wo der Hammer wirklich hängt, dann war der so unnötig wie fehlgeschlagen. Nachhilfestunden in Sachen Soul braucht die junge Engländerin ganz bestimmt nicht, auch nicht von Aretha. Oder habe ich da was mißverstanden, und es ging schlicht um „Respect“? Nur, warum fehlen auf dieser Platte dann sämtliche Hinweise auf die Autoren der Songs?

Adeles Talent als Songschreiberin ist nicht zu überhören, bei der Sängerin begeistern mich nicht nur die Lebendigkeit und absolute Glaubwürdigkeit ihrer Interpretation, sondern vor allem das Fehlen jeglicher Krawall-Attitüde a la Amy Winehouse und hochgezüchteter Vokalakrobatik. Für Letzteres dürfen Sie sich gern selbst ein Beispiel auswählen. Kandidatinnen sind ja mehr als reichlich vorhanden.


Wie wird es weitergehen? In den letzten vier Jahren hat Adele so einiges erlebt. Sie tourte ausgiebig, mußte sich dann jedoch im November 2011 einer Stimmbandoperation unterziehen, zeigte sich mit „Skyfall“ knapp ein Jahr später aber bestens erholt, bekam ein Kind und trennte sich kürzlich von dessen Vater. Die Zeichen stehen also gut für ein weiteres begeisterndes Album. Dabei scheint es fast unmöglich, daß ein Künstler in seiner Karriere zwei oder gar mehrere Platten eines solchen Kalibers zustande bringt. Die Namen derer, die erfolgreich den Gegenbeweis angetreten haben, sind heute in Stein gemeißelt. Wie auch immer die Sache ausgehen mag, bin ich fest davon überzeugt, daß „21“ in spätestens zwanzig Jahren sehr weit vorn in den allseits beliebten „ewigen Bestenlisten“ zu finden sein wird. Der test of time stellt für diese Platte wohl keine Hürde dar!

Zum Klang gibt es nicht viel zu sagen. Alles sitzt, nichts wackelt. Die Aura, die wirklich alte Soul-Scheiben verströmen, ist jedoch auch mit neuester Technik (oder gerade mit dieser) nicht einzufangen. Leider hat meine europäische Pressung (XL Recordings XLLP 520) vor allem auf der zweiten Seite einige Fertigungsmängel (Laufgeräusche, kleine Klicks und Pops), die zwar den Klang an sich nicht beeinträchtigen, aber den Hörgenuß. Bei der US-Ausgabe, die sich äußerlich lediglich durch einen großen, grünen Sticker unterscheidet, hat man da mehr Sorgfalt walten lassen und auch beim Vinyl nicht gespart (191 gegen 137 Gramm). Nur fehlen jetzt in der räumlichen Abbildung ein paar Quadratmeter. Dort, wo der Bass stand.


Musik: 9,0

Klang: 8,0 (Europa, 2011)

Klang: 7,5 (USA, 2011)


Ronald Born, Februar 2015